Wo zum Teufel kommen eigentlich die Drachen her? Kein Lebender hat je einen gesehen und nach allgemeinem Dafürhalten auch kein Toter. Aber einer muss den Anfang gemacht haben, denn ohne Anfang kommt auf dieser Welt nichts aus.
Die beste Erklärung für die Existenz der Drachen liefert im weitesten Sinn natürlich die Psychologie: Für sie materialisieren sich in allen Fabelwesen menschliche Sehnsüchte und Ängste; Drachen sind die Protagonisten eines kollektivierten Traums.
Zugleich aber hat der Mensch auch seine Wissenslücken seit jeher mit Fantasie gefüllt. Nach Galileo, Kopernikus oder Einstein aber muss kein Atlas und auch keine Schildkröte mehr die Erde tragen. Könnte also auch der Drache schlicht Folge eines Irrtums sein?
Die Knochen des Herodot
Das ist die Frage, die sich eine neue Folge der ZDF-Reihe „Terra X“ zu stellen traut – und wahrscheinlich muss man den Mut zu einem solch atemberaubenden Positivismus bewundern. Zwar gehen die Macher auch narrativen Strategien nach – etwa wenn sie den Feuer speienden Drachen als Abschreckungsstrategie von Goldsuchern erklären, die im Umfeld aktiver Vulkane besonders häufig fündig wurden. (Der Drache hütet also wirklich einen Schatz.)
Im Wesentlichen aber sucht „Terra X“ Form und nicht Funktion. Könnte sich zum Beispiel die Gestalt des chinesischen Drachen dadurch erklären lassen, dass man früher die schlanke und die vollgefressene Schlange für zwei verschiedene Wesen hielt?
Ein bisschen weniger närrisch ist die Geschichte Herodots, der im fünften Jahrhundert vor Christus in Ägypten die Skelette geflügelter Schlangen gesehen haben will. Könnte der berühmte Historienschreiber unwissentlich an einer Fossilienfundstelle gewesen sein? Steckt im Drachen der Flugsaurier? Ist der Drache die älteste Form der Dinomanie?
Die Einhörner von Kasachstan
Das Gegenteil handfest zu beweisen ist schwer, aber der Mythos ist offenkundig älter als Herodot, und man möchte sich nicht recht vorstellen, was man ausgraben müsste, um nach der gleichen Methode den vielgestaltigen Basilisken zu erklären.
Doch „Terra X“ hat nicht nur Mut zur Lücke, sondern zudem einen Hang zu Exzentrikern. In den Weiten Kasachstans haben die Macher den Paläontologen Andrey Shpanski aufgespürt, der sich über sein brennendes Interesse am urzeitlichen Elasmotherium zum Einhornforscher gemausert hat.
Einhörner, Sie erinnern sich, sind fabelhafte mystische Wesen; das Elasmotherium wiederum war ein tapsiger, wolliger Riese mit einem langen, einsamen, aber leider nicht erhaltenen Horn.
Könnte das geheimnisvolle Einhorn also eine ferne Erinnerung an das Elasmotherium sein – so wie vielleicht die Geschichte des erschlagenen Abel eine Erinnerung an den bedauernswerten Neandertaler ist?
Dergleichen gab es in der Zeitung schon zu lesen, aber die Datierung eines erhaltenen Elasmotherium-Schädels ist schwer. Gut möglich, dass das Urzeitnashorn verschwand, noch bevor sich ein Steinzeitmensch an seinen Anblick erinnern konnte.
Neue Infektionswege
So oder so: „Terra X“ hält auch in seinem dritten Beispiel am Prinzip Irrtum fest. Um zweifelsfrei zeigen zu können, wie „Monster und Mythen“ entstehen, wagt sich die Sendung in unsere Gegenwart und nimmt den langen Weg nach Mittelamerika auf sich.
Dort ist – nicht länger allein am Lagerfeuer, sondern vor allen Dingen im Internet – ab Mitte der 90er-Jahre der Mythos vom Ziegensauger aufgekommen, dem Chupacabra, der etwa in Puerto Rico in Ställe einbrach und nur die angeblich blutleeren Kadaver von Schafen und Ziegen zurückließ.
Der Vorteil dieses Fabeltiers, das mit jeder Erzählung noch größer und rätselhafter wurde, liegt auf der Hand: Anders als im Fall von Drache und Einhorn sind seine Infektionswege dokumentiert.
Ausgestopft in Texas
Abertausende von Internet-Einträgen führen auf ein und dieselbe texanische Farmerin zurück, die in den Nullerjahren gleich mehreren Chupacabras begegnete und zum Schluss gar auf ein überfahrenes Exemplar stieß.
Heute schmückt es ausgestopft ihre auch sonst etwas seltsam anmutende Heimstätte – ein haarloses, schlankes, dunkles Biest, das auf einen ersten Blick vielleicht als tollwütiger Windhund durchginge.
Damit aber sind den Positivisten endlich keine Grenzen mehr gesetzt. Ein DNA-Test überführt schließlich auch noch den gerissensten Drachen. Der texanische Chupacabra, stellt sich heraus, ist eine Mischung aus Kojote und mexikanischem Wolf, der sein Haarkleid an die Räude verloren hat. Und wer mal einen Fuchs mit Räude gesehen hat, weiß: Die bösen Milben sind wahre Gestaltwandler. Damit aber wären auch die (in Wahrheit keineswegs blutleeren) Opfer erklärt: Kojoten mit Räude sind zu schwach, um noch in freier Wildbahn zu jagen.
Bleibt die Frage, inwieweit eine solche Erklärung den Freunden von Drachen und Einhorn hilft. Zwei Dinge aber lehrt „Monster und Mythen“ allemal. Erstens: Manchmal kann man nur eines haben, Romantik oder Wissenschaft. Und zweitens: Richtig toll wird so ein Mythos erst durchs unablässige Erzählen.
„Terra X: Monster und Mythen“, ZDF, 18.11.2018, 19.30 Uhr