Die Bilder haben sich eingebrannt. Zahlreiche Rennfahrer aus allen Klassen senden seit Sonntagmittag Genesungswünsche an die schwer verunglückte Sophia Flörsch. „Ich habe die Bilder gesehen und kann nur hoffen, dass es allen Beteiligten einigermaßen gut geht“, schrieb Sebastian Vettels künftiger Ferrari-Kollege Charles Leclerc. Sein Vor-Vorgänger bei der Scuderia, Felipe Massa, kündigte an: „Ich bete für alle.“ Und Formel-E-Pilot Maro Engel war fassungslos: „In Gedanken bin ich bei allen Verletzten. Ich drücke Sophia die Daumen für ihre Operation.“
Am Montagmorgen sollte die 17-Jährige, die sich bei ihrem spektakulären Crash beim Formel-3-Rennen eine Wirbelsäulenfraktur zugezogen hatte, operiert werden. Nach dem Unfall waren die Vitalwerte wie durch ein Wunder ohne Beeinträchtigung. „Es waren die schlimmsten 20 Minuten meines Lebens, ehe wir Gewissheit hatten“, sagte Flörschs Teamchef Frits van Amersfoort später: „Ich kann mich nicht erinnern, einen solchen Unfall jemals gesehen zu haben. Sie hatte großes Glück.“
Bei ihrem Abflug durchschlug Flörsch einen Schutzzaun, der in den vergangenen Jahren Stück für Stück erhöht worden war, und prallte gegen eine Fotografentribüne. Zwei Fotografen wurden dabei verletzt, außerdem erlitt ein Streckenposten schwere Schürfwunden und einen Kieferbruch.
Der japanische Pilot Sho Tsuboi, den Flörsch bei ihrem Abflug touchiert hatte, wurde inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen. Er hatte über Schmerzen im Lendenwirbelbereich geklagt. Während die anderen vier Betroffenen weiterhin medizinisch versorgt werden müssen, beginnt die Aufarbeitung des Unfalls.
Die zentrale Frage dabei: Wie konnte Flörschs Mercedes-Dallara bei voller Fahrt derart ausgehebelt werden und von der Strecke schleudern?
„Es war ein fürchterlicher Moment“
Fest steht bislang, dass die Münchnerin rund 276 km/h schnell war, als ihr Vordermann Jehan Daruvala plötzlich auf die Bremse stieg. Flörsch krachte ins Heck des Inders, ihr rechtes Vorderrad geriet auf sein rechtes Hinterrad. Dadurch hob ihr Wagen ab. Wäre Flörschs Bolide auf dem Boden geblieben, wäre der Unfall womöglich viel tragischer ausgegangen. Anstatt ihn frontal zu treffen, flog Flörsch regelrecht über Tsuboi hinweg. Warum aber bremste der direkt vor Flörsch fahrende Daruvala so früh?
Laut Ferrari-Junior Guan Yu Zhou, der hinter Flörsch fuhr, unterlief den Organisatoren ein folgenschwerer Fehler. „In der Kurve zuvor habe ich gelbe Flaggen gesehen“, sagte der Chinese. „Ich dachte, es handelte sich um einen Irrtum, einen Fehler. Es war ein fürchterlicher Moment.“
Todt kündigt Ermittlung an
Diese gelben Flaggen, die im Motorsport in Gefahrensituationen geschwenkt werden und die Fahrer dazu bringen sollen, den Fuß vom Gas zu nehmen, dürfte auch Daruvala gesehen haben. Stieg er deshalb so unerwartet für seine Nebenleute auf die Bremse? Und wenn wirklich gelbe Flaggen geschwenkt wurden: Warum fuhr Flörsch dann so schnell in Richtung Lisboa Corner? Experten gehen davon aus, dass ihr Wagen durch die Kollision mit Deravula so unglücklich ausgehebelt wurde, dass ihre Bremsen de facto wirklungslos waren.
„Sophia war sehr dicht hinter Jehan. Sie hatte keine Chance zu reagieren“, sagte Zhou im Gespräch mit dem Branchenmagazin „Motorsports“. In einer ersten Analyse des Unfalls kamen die Veranstalter des Großen Preises von Macau zu dem Ergebnis, dass „kein Fahrerfehler den Vorfall ausgelöst“ habe.
Jean Todt, der Präsident des Automobil-Weltverbandes Fia, kündigte dennoch eine genaue Untersuchung des heftigsten Unfalls seit vielen Monaten an: „Wir werden analysieren, was genau passiert ist, und die nötigen Konsequenzen ziehen.“