Die SPD will sich wandeln. Mit Verve verfolgt die Vorsitzende Andrea Nahles die Abkehr von Hartz IV. Kein anderes Thema beschäftigte die Partei in den vergangenen 15 Jahren so sehr wie die Sozialreform, die unter dem bislang letzten sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder eingeführt wurde.
Nachdem viele Härten durch Veränderungen an der Reform bereits zurückgenommen wurden, möchte man sich endlich auch vom Namen trennen. Das hatte Nahles beim Debattencamp der Partei vor gut einer Woche angekündigt.
Nun führte sie ihre Vorstellungen am Wochenende in einem Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vage aus. Ein noch nicht genau definiertes „Bürgergeld“ soll die bisherigen Leistungen ersetzen. Es soll den Lebensunterhalt sichern, und Sanktionen sollen seltener verhängt werden als bisher.
Die geltenden Regeln grundsätzlich zu verändern wurde schon in mehreren Anläufen versucht – doch nun, bei Umfragewerten um 15 Prozent und angesichts der Grünen, die sich anschicken, die SPD als Volkspartei abzulösen, soll es Wirklichkeit werden.
Sozialer soll die neue SPD werden. Das wird klar, wenn man sich den Erneuerungsprozess der Partei anschaut, mit dem die Sozialdemokraten ihren Abstieg stoppen wollen. Ein Linksruck also.
Wer wissen will, was die Neuausrichtung der Partei in Zukunft konkret bedeutet, sollte einen Blick auf die Berliner SPD werfen. Sie gilt als einer der am weitesten links stehenden Landesverbände. Beim Parteitag am Wochenende beschlossen die Delegierten mehrere soziale Wohltaten in Höhe von insgesamt rund 500 Millionen Euro.
In Berlin versteht man sich als Vorreiter, nicht als Nachahmer des nun von Nahles eingeschlagenen Kurses: „Diese Maßnahmen haben mit der Bundespartei nichts zu tun. Wir gehen diesen Weg schon seit Jahren“, sagt der Berliner Fraktionschef Raed Saleh im Gespräch mit WELT.
Zu den beschlossenen Vorhaben gehört, dass Hortgebühren und die Zuschüsse der Eltern für Kita- und Schulessen abgeschafft werden sollen. „Ärmere Familien sind ohnehin oftmals von Gebühren befreit. Diese Maßnahmen zielen darauf ab, die Mittelschicht zu entlasten“, erklärt Saleh. Eine Familie zu haben dürfe kein Armutsrisiko sein. Man müsse verhindern, dass Menschen aus ihrem Stadtviertel wegziehen, weil sie sich das Leben dort nicht mehr leisten können.
„Wir sind hier Vorreiter“
Das nun beschlossene Paket begreift Saleh als Teil einer umfassenden Strategie: „Das ist der größte Wurf der letzten Jahre. Es ist eine konsequente Weiterentwicklung der Vision von der gebührenfreien Stadt.“ Dieses Konzept hat in Salehs Augen Strahlkraft über die Hauptstadt hinaus: „Städte müssen bezahlbar bleiben, das gilt nicht nur für Berlin. Wir sind hier Vorreiter.“
Weitere vom Landesparteitag beschlossene Ziele sind die Erhöhung des Landesmindestlohns ab 2021 auf 12,63 Euro pro Stunde. Dieser muss auch von Unternehmen gezahlt werden, die Aufträge des Landes annehmen. Zudem sollen Beschäftigte des Landes ab 2020 eine Zulage von 150 Euro pro Monat bekommen.
Die SPD ist der Meinung, dass sich Berlin solche Ausgaben leisten kann. Nach Jahren eines harten Sparkurses, der von einem rot-roten Senat unter Führung des damaligen Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD) umgesetzt worden war, wurde der Haushalt konsolidiert. Die Wirtschaft in der Stadt wächst: Bei Touristen aus dem In- und Ausland ist Berlin beliebt.
Die Start-up-Branche zieht digitale Unternehmer aus der ganzen Welt an. Seit Jahren gibt es einen anhaltenden Bauboom. Die Arbeitslosigkeit lag im Oktober bei 7,7 Prozent – der Höchststand betrug im Jahr 2005 noch 19 Prozent. Gleichzeitig sitzt Berlin allerdings immer noch auf einem gigantischen Schuldenberg von rund 59 Milliarden Euro.
Trotz der anhaltend guten wirtschaftlichen Entwicklung und eines Haushaltsüberschusses von zuletzt 2,16 Milliarden wurden seit dem Rekordstand 2011 erst drei Milliarden getilgt. Auch soziale Probleme bestehen fort: Fast jedes dritte Kind in Berlin unter 18 Jahren wächst mit Hartz IV auf.
Die nun beschlossenen Ziele hat die Berliner SPD noch nicht mit den Koalitionspartnern, Grüne und Linkspartei, abgestimmt. Doch die Sozialdemokraten sind optimistisch, dass sie sich damit durchsetzen. Aus dem Landesverband heißt es verschmitzt: „Die haben kaum eine andere Wahl, als mitzumachen.“