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Nach Billigung durch EU Wie es beim Brexit weitergeht - die Szenarien

Jetzt geht's um alles: Nachdem die EU-Staaten den Vertrag zu Großbritanniens Austritt gebilligt haben, liegt die Entscheidung bei den Parlamentariern in London. Möglich ist sogar, dass der Brexit noch abgesagt wird - ist es auch wahrscheinlich?

Vor genau 885 Tagen haben die Briten dafür gestimmt, die EU zu verlassen. Die Verhandlungen, die London und Brüssel seitdem geführt haben, verliefen derartig zäh, dass man befürchten musste, dass sie scheitern könnten. Erst kürzlich gab es eine Einigung.

Am Sonntag dann gaben auch die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten dem Scheidungsabkommen und der politischen Erklärung über die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich ihren Segen.

Im Video: EU billigt Brexit-Vertrag

SPIEGEL ONLINE

In trockenen Tüchern ist der Deal damit aber nicht. Denn noch muss das Parlament in London für das 585 Seiten lange, rechtlich bindende Scheidungsabkommen und über die 26-seitige politische Erklärung abstimmen. Diese Abstimmung wird im Dezember erwartet. Doch der Deal ist in Großbritannien äußerst unbeliebt. Eine Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus lehnt ihn bislang ab.

Wie also geht die Sache aus? Hier die möglichen Szenarien:

  • Die Abgeordneten in London stimmen über das Scheidungsabkommen und die Erklärung zu den zukünftigen Beziehungen ab und billigen diese gleich beim ersten Mal

Das gilt im Moment als so gut wie ausgeschlossen. Sämtliche Oppositionsparteien haben erklärt, dass sie gegen den Deal stimmen werden, den May aus Brüssel nach Hause bringt. Die Premierministerin hat im Unterhaus eine "technische" Mehrheit von gerade einmal 13 Abgeordneten. Dabei ist sie zwingend auf die zehn Abgeordneten der Democratic Unionist Party (DUP) angewiesen, einer nordirischen Regionalpartei, die Mays Regierung seit den vorgezogenen Neuwahlen im vergangenen Jahr toleriert. Aber deren Parteiführung schießt seit Wochen gegen den Deal. Parteichefin Arlene Foster erklärte erst vor wenigen Tagen , das Abkommen sei "nicht im Interesse Nordirlands".

Selbst, wenn einige Labour-Abgeordnete ausscheren und für Mays Brexit-Deal stimmen, dürften viele Tory-Politiker dagegen stimmen. Mehr als 80 von ihnen haben sich kürzlich gegen das Abkommen ausgesprochen. Diese Zahl dürften in den kommenden Wochen sinken. Dennoch gilt es im Moment als so gut wie gesichert, dass May ihren Deal beim ersten Anlauf nicht durchs Parlament bekommen wird.

  • Es gibt bei den Tories eine parteiinterne Revolte und May verliert ihren Job. Ein anderer Tory-Politiker wird Premierminister

Unwahrscheinlich. Der Chef der euroskeptischen Tory-Abgeordneten, Jacob Rees-Mogg, ist kürzlich mit seinem Versuch gescheitert , May zu stürzen. Entziehen 15 Prozent der konservativen Fraktion (derzeit wären das 48 Abgeordnete) May in internen Schreiben das Vertrauen, kommt es zu einem Misstrauensvotum. Sollte sich dann mehr als die Hälfte der Fraktion gegen May aussprechen, würde das einen Machtkampf um ihre Nachfolge in Gang setzen. Und der könnte unter Umständen mehrere Wochen dauern.

Genau da liegt das Problem. Die Zeit drängt: In etwas mehr als vier Monaten soll Großbritannien die EU verlassen. Ist bis dahin kein Brexit-Abkommen unterzeichnet, dann kracht Großbritannien ganz ohne Abkommen aus der EU. Einige Brexit-Hardliner bei den Tories betrachten das als wünschenswertes Szenario. Tatsächlich wäre ein solcher No-Deal-Brexit äußerst risikoreich . Nur die wenigsten Tory-Abgeordneten dürften dazu bereit sein, quasi aus Versehen einen superharten Brexit herbeizuführen, indem sie May ausgerechnet jetzt stürzen.

  • May scheitert im Parlament, es gibt Neuwahlen

Das ist das Szenario, das sich Labour wünscht, die wichtigste Oppositionspartei des Landes. Doch damit es zu Neuwahlen kommt, müsste sich eine Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus in einem Misstrauensvotum gegen May aussprechen. Doch damit würden viele Tory-Abgeordnete dafür stimmen, arbeitslos zu werden. Denn in Umfragen liegt Labour seit einiger Zeit klar vorne.

Der parteiinterne Streit zwischen Gegnern und Befürwortern der EU bei den Tories würde in einem Wahlkampf auch voll entbrennen. Das Hickhack könnte die Partei an den Rand einer Spaltung bringen und würde einen Labour-Sieg so gut wie garantieren. Daher ist es eher unwahrscheinlich, dass es zu Neuwahlen kommt.

  • May scheitert im Parlament, es kommt zu einem ausgehandelten No-Deal-Brexit

Das ist ein weiteres Szenario, über das offenbar einige konservative Minister nachdenken, falls May im Parlament scheitern sollte: Die Regierung in London bittet die EU darum, den Brexit-Termin im kommenden März um ein Jahr nach hinten zu verschieben. Nach diesem Jahr verlässt das Land die EU ohne ein Abkommen. London würde in diesem Jahr weiter Mitgliedsbeiträge zahlen und versuchen, mit Brüssel eine Reihe von Vereinbarungen zu treffen, um den Sprung ins Ungewisse abzumildern.

Doch selbst die Kritiker des derzeitigen Brexit-Deals äußern sich dazu derzeit eher zurückhaltend . Die Brexit-Hardliner im Unterhaus würden über eine solche Lösung sicher jubeln. Doch die sind in der Minderheit. Die Opposition und die Wirtschaft dürften entschieden gegen eine solche Lösung feuern.

  • May verliert die Abstimmung im Parlament, der Brexit wird abgesagt

Wäre das nicht die Lösung? May findet für den Brexit-Deal keine Mehrheit. Die Abgeordneten stimmen stattdessen dafür, den Brexit-Prozess zu stoppen. Das Land bleibt in der EU.

Doch es ist sehr unwahrscheinlich, dass es dazu kommt. Denn Labour hat sich dagegen ausgesprochen, den Brexit zu stoppen. Es ist auch unwahrscheinlich, dass sich eine Mehrheit der Abgeordneten dazu durchringen könnte, das Ergebnis des EU-Referendums zu ignorieren. Denn damit würden nicht nur viele von ihnen ihre politische Laufbahn begraben. Ein solcher Schritt würde die Gräben in der britischen Gesellschaft, die das Referendum offengelegt hat, weiter vertiefen. Unter Umständen könnte es sogar zu Unruhen kommen. Zudem ist auch unklar, ob Großbritannien überhaupt in der Lage ist, den Brexit-Prozess einseitig zu stoppen.

  • Es gibt ein zweites Referendum

In letzter Zeit hat die Forderung nach einem zweiten Referendum deutlich an Fahrt gewonnen. Erst kürzlich haben in London Hunderttausende für ein solches "People's Vote" protestiert. Doch über was genau würde abgestimmt werden? Würden die Briten lediglich darum gebeten, für oder gegen Mays Brexit-Deal zu stimmen, oder würde es auch die Option geben, für einen Verbleib in der EU zu stimmen? Allein das Hickhack darum wäre gewaltig. Umfragen zufolge wünscht sich jedoch eine Mehrheit der Briten eine solche Abstimmung. Und die Remainer, als die Befürworter einer fortgesetzten EU-Mitgliedschaft, haben in Umfragen derzeit klar die Nase vorn .

Nach massivem Druck von der Basis hat sich auch die Labour-Führung kürzlich dazu durchgerungen, eine solche Abstimmung zumindest in Erwägung zu ziehen. Doch nur als Plan B. Labour-Chef Jeremy Corbyn möchte vorrangig dafür sorgen, dass es zu Neuwahlen kommt, bei denen Labour die Regierung ablöst.

Doch auch bei Labour gibt es eine Handvoll Brexit-Hardliner, die gegen ein zweites Referendum stimmen dürften. Daher müssen mindestens zwei Dutzend Tory-Abgeordnete für ein solches Referendum stimmen. May hat mehrfach erklärt, dass sie strikt gegen ein zweites Referendum ist.

  • May verliert die Abstimmung, es gibt Chaos, beim zweiten Anlauf klappt es dann

Sollte die Regierung die Abstimmung im Unterhaus wie erwartet verlieren, dann müsste gemäß dem EU-Austrittsgesetz  binnen 21 Tagen ein Minister vor dem Unterhaus des Parlaments erklären, wie die Regierung fortfahren möchte. Danach hätte sie sieben Tage lang Zeit, um dem Parlament einen Antrag vorzulegen.

Da sich die politischen Vorzeichen dann geändert hätten - Großbritannien wäre dann auf dem Weg, ohne Abkommen aus der EU zu fallen -, könnte die Regierung den Abgeordneten den Brexit-Deal ein weiteres Mal zur Abstimmung vorlegen.

Bis dahin dürfte eine Menge passiert sein: Die Aussicht auf einen No-Deal-Brexit dürfte für schwere Turbulenzen in der Wirtschaft sorgen. Wirtschaftsführer und die Öffentlichkeit dürften massiven Druck auf die Politik ausüben, doch noch eine Lösung zu finden. Sollten die Befürworter der anderen möglichen Lösungen (Neuwahlen, zweites Referendum, ein aufgeschobener Brexit etc.) bis dahin ebenfalls gescheitert sein, dann könnte sich eine Mehrheit der Abgeordneten dazu durchringen, zähneknirschend doch noch für den Brexit-Deal zu stimmen.

Die meisten Beobachter und wohl auch die Regierung gehen derzeit davon aus , dass es wohl so kommen wird. Doch das ist gefährlich: Nur, weil alle glauben, dass das Schlimmste schon nicht eintreten wird, könnte es trotzdem dazu kommen. Ein Beispiel gefällig? Auch vor dem Brexit-Referendum vor zwei Jahren konnte sich kaum jemand vorstellen, dass die Briten wirklich für den Brexit stimmen würden (oder dass die Amerikaner einen krankhaft narzisstischen TV-Star zum US-Präsidenten wählen würden).

Sollten die Abgeordneten auch beim zweiten Anlauf gegen Mays Brexit-Deal stimmen, dann würde das Land unweigerlich auf dieses Szenario zusteuern:

  • Ein No-Deal-Brexit

Ein No-Deal-Brexit würde bedeuten, dass Großbritannien die EU im kommenden März ohne ein Abkommen verlässt. Die Folgen wären, zumindest auf kurze Sicht, vermutlich verheerend.

Doch das ist das Szenario, das eintritt, wenn alle Alternativen scheitern. Jede andere Lösung würde es erfordern, dass irgendjemand nachgibt. Verlassen sich zu viele Akteure darauf, dass eine andere Gruppe schon irgendwann nachgeben wird, könnte es letzten Endes passieren, dass alle Alternativpläne scheitern. Das Land würde auf den härtestmöglichen Brexit zusteuern - quasi aus Versehen.