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Literatur Schecks Kanon (85)

Was uns Goethes „Faust“ über Altersrassismus erzählt

So spooky kann deutsche Klassik: Gosta Ekman in F. W. Murnaus Faust-Verfilmung von 1926 So spooky kann deutsche Klassik: Gosta Ekman in F. W. Murnaus Faust-Verfilmung von 1926
So spooky kann deutsche Klassik: Gosta Ekman in F. W. Murnaus Faust-Verfilmung von 1926
Quelle: Getty Images
Goethes Theaterstück ist – auch international – der deutsche Klassiker schlechthin. Mit vielen radikalen Botschaften: „Hat einer dreißig Jahr vorüber / So ist er schon so gut wie tot.“

Groß war die Verlockung, Goethe als Lyriker in meinen Kanon aufzunehmen: Wo finden sich auf engstem Raum so hoch verdichtete Gedankenkonzentrate kombiniert mit enormer Zärtlichkeit und Sprachgewalt? Auch der Autor des ersten modernen Beziehungsromans („Wahlverwandtschaften“), der fragt, wie man Leben und Liebe unter einen Hut bekommt, dürfte seinen Platz darin beanspruchen. Ja, selbst der Verfasser der „Italienischen Reise“.

Größer aber noch ist Goethes Bedeutung als Schöpfer des Dramas, das im Ausland zu Recht als das deutsche schlechthin gilt: „Faust“ ist das Stück, das man ein Leben lang neu und anders liest, in dem Goethe antike und mittelalterliche Mythen zu einem großen Neuen verschmilzt und von einem Bewusstsein erzählt, dessen Modernität darin liegt, dass es sich den bequemen Wahrheiten von althergebrachter Religion und Moral nicht mehr anvertrauen möchte, sondern seine Sache ganz auf sich stellt – und auf den Teufel.

Literaturgeschichte lässt sich immer auch erzählen als Aufstand der Jungen gegen die Alten, als Revolte der hungrigen Neuen gegen die fett im Warmen sitzenden Etablierten. Johann Wolfgang von Goethe hat das am eigenen Leib erfahren: als Autor des Weltbestsellers „Werther“, als Initiator der Dichterschulen von Sturm und Drang und deutscher Klassik – nicht zuletzt als Autor des „Faust“, dem er 27 Jahre nach dem ersten Teil von 1805 einen zweiten Teil folgen ließ.

In „Faust II“ macht er sich im Dialog des Mephisto mit dem vom Schüler aus „Faust I“ zum Bakkalaureus Avancierten lustig: Ein veritables Originalgenie der zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer mehr an Boden gewinnenden harten Naturwissenschaft, ausgerüstet mit dem stählernen Selbstbewusstsein und dem Altersrassismus der Kulturrevolutionäre aller Zeiten, betritt da die Bühne. Und vor so viel Hybris muss selbst der Teufel weichen:

„Baccalaureus: Gesteht! was man von je gewusst,/ Es ist durchaus nicht wissenswürdig./ Mephistopheles: Mich deucht es längst. Ich war ein Tor,/ Nun komm’ ich mir recht schal und albern vor./ Baccalaureus: Das freut mich sehr! Da hör’ ich doch Verstand;/ Der erste Greis, den ich vernünftig fand!/ … Hat einer dreißig Jahr vorüber,/ So ist er schon so gut wie tot./ Am besten wär’s, euch zeitig totzuschlagen./ Mephistopheles: Der Teufel hat hier weiter nichts zu sagen./ Baccalaureus: Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein./ Mephistopheles: Der Teufel stellt dir nächstens doch ein Bein./ Baccalaureus: Dies ist der Jugend edelster Beruf!/ Die Welt, sie war nicht, eh’ ich sie erschuf;/ … Mephistopheles: Original, fahr hin in deiner Pracht! –/ Wie würde dich die Einsicht kränken:/ Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken,/ Das nicht die Vorwelt schon gedacht?“

Die Amüsierlust der Mächtigen

Neben den Früchten seiner lebenslangen Beschäftigung mit der Antike – schon Goethes Vater hatte in Frankfurt einen türkischstämmigen Sprachlehrer für Griechisch und Latein für ihn angeheuert – flossen in „Faust II“ insbesondere viele jener Kenntnisse ein, die sich Goethe während seiner Zeit als Superminister in Weimar angeeignet hatte: Die Amüsierlust der Mächtigen und ihre permanente Geldnot kannte er ebenso aus eigener Anschauung wie ihre Unlust zum Aktenstudium und ihre mangelnde Einsicht in Etatnotwendigkeiten.

Am meisten staunen macht mich bis heute der wahrhaft unersättliche Wissensdurst, das nie befriedigte Interesse dieses Menschen. Nichts ist dem Autor Goethe zu klein, zu abgelegen oder zu trivial. Goethe ist eine Neugiermaschine auf zwei Beinen. Ein Aktenfresser, Datenfex, Erfahrungssucher, Faktensammler und Wissensstaubsauger. Architektur und Kunst, Musik, Literatur finden ebenso Eingang in diese Dichtung wie die Frage nach den Folgen der Einführung einer nicht goldgedeckten Papierwährung, Bergbau, Straßenbau, Landgewinnung, Geologie und Landwirtschaft, Wasserbau, Religion, Mineralogie.

„Faust“ lesen, das ist eine Einladung zu einem Parcours durch die Wissenskreise, ein Ausloten unserer Anlagen zum Künstler, Wissenschaftler, Unternehmer – und nicht zuletzt ein Angriff auf unsere Lachmuskeln.

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