WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Geld
  3. Verbraucher
  4. Verbraucherschutz: Deutschland im AGB-Wahnsinn

Verbraucher Verbraucherschutz

Deutschland im AGB-Wahnsinn

Wirtschafts- und Finanzredakteur
Nerviges Einkaufen: überall werden Konsumenten aufgefordert, Kleingedrucktes zu lesen Nerviges Einkaufen: überall werden Konsumenten aufgefordert, Kleingedrucktes zu lesen
Nerviges Einkaufen: Überall werden Konsumenten aufgefordert, Kleingedrucktes zu lesen
Quelle: Getty Images/Westend61
Von der Waschmaschine bis zur Versicherung: Wer heute etwas kaufen will, muss seitenweise AGB, Produktinformationen und Datenschutzhinweise lesen. Doch die wenigsten Kunden haben dafür Zeit. Dabei gibt es längst neue Ideen.

Jutta Gurkmann ignoriert die Aufforderung regelmäßig. „Wie oft habe ich schon AGBs einfach ungelesen weggeklickt und den Vertrag unterschrieben“, sagt sie. Um alles durchzulesen, fehle ihr schlicht die Zeit. „Ich muss Arbeit und Familie unter einen Hut bringen, will mich gesund ernähren, eine gute Schule für meine Kinder finden, da reichen 24 Stunden am Tag ohnehin nicht aus.“

Gurkmann ist nicht irgendwer, sie ist Verbraucherschützerin, gehört zur Geschäftsleitung des Bundesverbands der Verbraucherzentralen in Berlin und war damit an manch einer Vorschrift beteiligt, die ihr nun die Zeit raubt.

So wie Gurkmann geht es vielen Millionen Menschen. Theoretisch waren sie noch nie so gut informiert wie heute. Praktisch waren sie noch nie so genervt. Ob in Banken, beim Kauf einer Versicherung, eines Flugtickets oder einer Waschmaschine, überall werden Konsumenten aufgefordert, seitenweise Kleingedrucktes zu lesen, bevor sie bekommen, was sie eigentlich wollen.

Zeit für einen neuen Verbraucherschutz

AGB, Produktinformationen, Datenschutzhinweise, Beratungsprotokolle, all das wird ihnen überreicht, all das sollen sie als „gelesen“ unterschreiben oder im Internet markieren. Zufrieden ist damit niemand, weder Kunden noch Unternehmen. Es wird Zeit für eine neue Form des Verbraucherschutzes. Vielversprechende Ansätze gibt es.

Die heutige Informationsflut ist einem Idealbild geschuldet, dem die Verbraucherpolitik seit Jahren hinterherjagt: dem des mündigen Verbrauchers. Ein Kunde soll von niemandem bevormundet werden und seine Kaufentscheidungen stets selbstbestimmt treffen können. Dafür braucht er so viel Wissen wie möglich, so der Gedanke. Nur so kann er auf Augenhöhe mit den Anbietern der Waren und Dienstleistungen handeln.

Lesen Sie auch

Was gut klingt, stellt sich in der Praxis als schwierig heraus. Denn die gleichen Menschen, die in einer Situation tatsächlich mehr Informationen wünschen, beklagen in der anderen ein Übermaß.

Die Forschung lieferte dafür drei typische Verhaltensmuster: Je nach Situation ist ein Kunde mal der verletzliche, mal der vertrauende, mal der verantwortungsvolle Verbraucher – mal braucht er ganz viel Schutz, mal geht er davon aus, dass er geschützt sein wird, wenn etwas schiefläuft, mal sucht er sogar gezielt nach zusätzlichen Informationen, etwa wenn es um gesunde Ernährung geht. Das macht einen zielgenauen Verbraucherschutz schwierig: Wer sich beim Einkauf im Internet sicher fühlt, ist vielleicht bei Finanzgeschäften umso unsicherer.

„Kein Verständnis dafür, was wir da machen“

Das Ergebnis lässt sich in Banken beobachten: Dort müssen seit Jahresanfang alle telefonischen Beratungsgespräche, jedes Wort zwischen Kunde und Berater, aufgezeichnet werden. Ist der Kunde vor Ort, gibt es eine schriftliche Zusammenfassung des Gesprächs. Darin hält der Berater fest, warum er dieses oder jenes Produkt dem Kunden empfohlen hat. Dadurch soll sich bei späteren Rechtsstreitigkeiten nachvollziehen lassen, ob beim Verkauf ausreichend über Risiken gesprochen wurde.

Michael Mandel hält den Dokumentationseifer für „eine Katastrophe“. Der Privatkundenvorstand der Commerzbank berichtet von verärgerten Kunden, die keine Lust haben, sich jedes Mal ausführlich belehren zu lassen, bevor sie einen Investmentfonds oder eine Aktie kaufen oder verkaufen könnten. „Die Menschen haben kein Verständnis mehr dafür, was wir da machen“, sagt er.

Anzeige

Um dem zu entgehen, verzichteten viele Kunden mittlerweile auf Beratung und handelten eigenständig per Internet – oder kümmerten sich gar nicht mehr um ihre Geldanlage. Laut Mandel hat sich die Zahl der Wertpapierkäufe und -verkäufe nach einer Beratung in diesem Jahr halbiert. „Oma Meier haben wir reguliert, aber die anderen leider gleich mit“, sagt der Bankvorstand. Es könne nicht sein, dass alle Kunden – unabhängig von ihrer Vorbildung – gleich behandelt werden müssten.

Lesen Sie auch

„Verschiedene Gesetze für verschiedene Gruppen sind schwierig“, sagt dazu Rita Hagl-Kehl, parlamentarische Staatssekretärin im Ministerium von Verbraucherschutzministerin Katarina Barley. Sicherlich sei es wünschenswert, wenn die Papierstapel wieder flacher würden. „Aber letztlich müssen sich auch Vielflieger vor jedem Start wieder die Sicherheitseinweisung anhören.“

Ein Ausweg ist schwierig. Kein Politiker will sich vorwerfen lassen, zu wenig für den Schutz der Verbraucher getan zu haben – und in der Tat ist es einfach, über die Flut an Dokumenten und Protokollen zu klagen, solange nichts passiert. Aber wehe, es passiert wieder etwas, wie vor zehn Jahren mit der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers, als viele Anleger plötzlich auf weitgehend wertlosen Zertifikaten saßen. Dann ist das Geschrei groß.

Weniger Informationen, aber mehr Schutz, dieser vermeintliche Widerspruch kann aufgelöst werden. Zumindest ist man davon in der Wissenschaft überzeugt. „In verschiedenen Studien wird vorgeschlagen, AGB-Texte deutlich zu vereinfachen, wichtige Punkte an einer Stelle hervorzuheben, damit das ganze gefälliger und für jedermann handhabbarer wird“, sagt Christian Bala von dem bei der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen angesiedelten Kompetenzzentrum Verbraucherforschung. In diese Richtung geht auch die seit Jahren diskutierte Ampel, mit der auf Verpackungen signalisiert werden soll, wie viel Fett, Zucker und Salz in Lebensmitteln enthalten sind.

Wissenslücke lässt sich nicht wegregulieren

Einen radikaleren Kurswechsel hält Andreas Oehler für notwendig. „Der Verbraucherschutz in seiner jetzigen Form ist in der Sackgasse“, sagt der Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Bamberg und Direktor der Forschungsstelle „Verbraucherfinanzen und Verbraucherbildung“. Gesetze, Verordnungen und Einlassungen der Politik gingen immer noch vom „informiert entscheidenden Verbraucher“ aus, der sei jedoch eine Illusion.

„Der Unterschied an Wissen zwischen Kunde und Anbieter bleibt bestehen, die Lücke lässt sich nicht einfach wegregulieren“, so Oehler. Allzu oft werde der Kunde in ganz viel Informations-Watte gehüllt, ohne dass der Schutz tatsächlich größer werde. Viele Dokumente böten für Anbieter sogar den Anreiz, die Haftung auf den Kunden zu übertragen und sich selbst davon freizuzeichnen.

Bei der Haftung will Oehler ansetzen: Er fordert eine dauerhafte Beweislastumkehr. „Wenn es ein Problem mit einem Produkt oder einer Dienstleistung gibt, muss der Anbieter beweisen, dass er dafür nichts kann. Er ist haftbar, solange das Produkt lebt“, sagt Oehler. Das gelte für Lebensversicherungen genauso wie für Haushaltsgeräte. Wenn ein Hersteller oder Händler garantiere, dass die Waschmaschine zehn Jahre problemlos läuft, dann hafte er auch zehn Jahre dafür, dass dem so sei. Bei einer anderen Maschine gelte die Zusage vielleicht nur für fünf Jahre, dafür ist sie auch billiger.

Commerzbank stellt ihr Beratungssystem um

Anzeige

„Dann kann sich jeder Kunde entscheiden“, so Oehler. Profitieren würden beide Seiten: Anbieter müssten nicht mehr unendlich viele Informationen vorhalten, Kunden nicht mehr unendlich viele Informationen verarbeiten.

Heute genießt der Käufer einer Ware nur die ersten sechs Monate besonderen Schutz. In dieser Zeit muss der Händler beweisen, dass der Mangel nicht schon beim Verkauf der Ware vorlag. Nach einem halben Jahr dreht sich die Sache dann um. Dann muss der Kunde darlegen, warum er für den Defekt nichts kann.

Noch wehrt sich die Wirtschaft gegen solch grundsätzliche Veränderungen des Verbraucherschutzes. Doch bei den ersten Unternehmen gibt es ein Umdenken. Commerzbank-Vorstand Michael Mandel will den strengen Dokumentationspflichten durch ein neues Bezahlmodell entkommen. Die Bank soll für den Verkauf eines Fonds keine Vertriebsprovision mehr vom Hersteller erhalten, sondern für ihre Leistung direkt vom Kunden bezahlt werden, mittels einer festen Beratungsgebühr.

Dann müsse sich kein Kunde mehr fragen, ob er den angebotenen Fonds nur kaufen soll, weil die Bank dafür einen Ausgabeaufschlag kassiert. Mit dem Flat-Fee-Modell werde das Problem des Interessenkonflikts zwischen Kunde und Bank gelöst. Widerspruch von Verbraucherschützern muss Mandel für den Ansatz nicht fürchten, sie fordern seit Langem die Abschaffung der Provisionen bei Finanzgeschäften.

Ein weiterer Ansatz, um Kunden auf Augenhöhe mit Anbietern zu bringen, wird gerade ausprobiert. Seit 1. November können sich Verbraucher kostenlos einer Verbandsklage anschließen, um ihre Rechte durchzusetzen. Verbraucherschutzministerin Barley war es, die die sogenannte Musterfeststellungsklage im Sommer durch den Gesetzgebungsprozess trieb. Die Idee: Müssen Firmen bei Fehlverhalten Schadenersatz fürchten, verhalten sie sich von Anfang an verbraucherfreundlicher.

Die Wirkung ist aber umstritten. Dass sie funktioniert, wird auch Jutta Gurkmann zeigen müssen. Sie ist beim Bundesverband der Verbraucherzentralen verantwortlich für die Musterklage gegen Volkswagen. In den kommenden Wochen können sich vermeintlich betrogene Diesel-Fahrer der Klage anschließen. Mehr Zeit, um nebenher noch seitenlange AGB zu lesen, wird Gurkmann dann nicht haben.

Lesen Sie auch
Wer seit 2008 einen VW, Skoda, Seat oder Audi mit einem Motor des Typs EA 189 gekauft hat, kann sich überlegen, an der Musterfeststellungsklage teilzunehmen
Klage wegen Dieselgate

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema