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NSU-Prozess: Deutschland und seine Dämonen

Foto: Tobias Hase/ dpa

Rechter Terror "Zehn Morde. Sind ihnen völlig egal"

"Der NSU-Prozess: Das Protokoll" dokumentiert auf 2000 Seiten das Mammut-Strafverfahren gegen rechten Terror. Annette Ramelsberger war als Journalistin dabei. Ein Gespräch über Deutschland und seine Dämonen.
Foto: Verlag Antje Kunstmann

Annette Ramelsberger arbeitet als Gerichtsreporterin der "Süddeutschen Zeitung". Sie hat die Deutsche Journalistenschule besucht und Jura, Politik und Journalistik studiert. Sie war Redakteurin des SPIEGEL und der "Berliner Zeitung" in München und Berlin und DDR-Korrespondentin der Nachrichtenagentur AP zur Zeit des Mauerfalls. Seit 1997 ist sie bei der "Süddeutschen Zeitung" als Ressortleiterin und politische Reporterin tätig.

SPIEGEL ONLINE: Frau Ramelsberger, schreiben Sie als Gerichtsreporterin bei Prozessen immer wörtlich mit?

Ramelsberger: Nein, das mache ich nie. Und das werde ich auch nie wieder tun. Ich bin ein altes journalistisches Schlachtross. Dieses Buch aber ist für mich das aufregendste, anstrengendste, aber auch das wichtigste Projekt, das ich in meinem journalistischen Leben jemals geschultert habe.

SPIEGEL ONLINE: Wann wurde Ihnen das klar?

Ramelsberger: Gleich am Anfang wurde ein Antrag der Verteidigung abgelehnt, das Ganze aufzunehmen oder stenografieren zu lassen. Da wird man hellhörig.

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NSU-Prozess: Deutschland und seine Dämonen

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SPIEGEL ONLINE: Schreiben denn nicht Protokollanten des Gerichts ohnehin mit?

Ramelsberger: Das denkt sich jeder. Das ist aber nicht so. Die schreiben nur: "Der Zeuge Max Mustermann kam und machte Angaben zur Sache. Der Zeuge wurde unvereidigt entlassen" und dergleichen. Aber nichts zum Inhalt. Überhaupt nichts. Wir haben das von Anfang an als Jahrhundertprozess eingeschätzt und dachten uns: Wenn die Justiz diese wichtige Arbeit nicht macht, dann machen wir sie. Da wussten wir noch nicht, dass es fünf Jahre dauert. Wir haben mit zwei Jahren gerechnet….

SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie geschrieben?

Ramelsberger: Ich hatte den Laptop auf den Knien und habe da alles reingeschrieben. Was wir am Abend als Buchstabensalat auf dem Laptop hatten, das mussten wir immer sofort in Reinschrift bringen. Sonst wäre auch das weg gewesen.

SPIEGEL ONLINE: Ist das nicht psychisch belastend?

Ramelsberger: Das ist es. Allein schon, wenn man diese schrecklichen Morde haarklein erklärt bekam. Schädelsteckschuss. Zahn zertrümmert. Nasenbein zerstört. Zerschossenes Auge. Schüsse ins Gesicht eben. Und wie sich das dann auswirkt, das bekommen sie von den Rechtsmedizinern im Detail erklärt.

SPIEGEL ONLINE: Das sind die Toten.

Ramelsberger: Und dann treten die Überlebenden auf, zum Beispiel der Kollege der ermordeten Polizistin Michelle Kieswetter, der mit ihr im Streifenwagen saß und dem sie auch in den Kopf geschossen haben. Und der kommt mit Krücken in den Saal, weil er den Gleichgewichtssinn verloren hat. Ein ganz junger Kerl, der erzählt, wie er sogar noch studiert hat. Damit er noch irgendwie Polizist bleiben kann. Und wie er, der kräftige junge Mann, der unbedingt raus wollte zu den Leuten, heute auf Stube sitzt und Akten bearbeitet.

SPIEGEL ONLINE: Und die Zeugen aus der rechtsextremen Szene?

Ramelsberger: Die rechten Zeugen können sich an nichts erinnern und lügen dem Gericht ins Gesicht. Sie sagen "Nö" und "Nicht, dass ich wüsste", halten zusammen. Und es ist ihnen so absolut egal, was da passiert ist. Zehn Morde. Sind ihnen völlig egal. Und das ist etwas, das bei mir dann..., … das hatte Auswirkungen. Ja.

SPIEGEL ONLINE: War es vor Gericht ein Thema, dass jahrelang in die falsche Richtung ermittelt wurde? Stichwort "Dönermorde"?

Ramelsberger: Ja. Sehr oft. Es gab einen Fall, bei dem der Witwe des Blumenhändlers Enver Simsek von den Ermittlern das Bild einer blonden Frau gezeigt wurde. Und sie sagten ihr, das sei die langjährige Geliebte ihres Mannes, mit der habe er zwei Kinder. Verstehen Sie? Nichts war wahr! Sie wollten sozusagen das Schweigen der Familie brechen, um endlich etwas zu finden. Das ist illegal. Man hat es trotzdem gemacht. Erst Monate später haben sie dieser Frau die Wahrheit gesagt. Und das Schlimmste: Die Frau war dann auch noch dankbar. Kein einziger Ermittler hat sich entschuldigt. Niemand hat angeblich einen Fehler gemacht. Alles Pech.

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Fotoreportage: Der andere Blick auf den NSU-Prozess

Foto: Tom Hauzenberger

SPIEGEL ONLINE: Hat sich Ihre Einstellung zum Staat und seinen Diensten verändert?

Ramelsberger: Ich bin als Korrespondentin der "Süddeutschen Zeitung" in Berlin bei all diesen Leuten in den Hintergrundrunden gesessen. Natürlich ging es da auch um diese angeblichen "Dönermorde", dieses Unwort. Eine braune RAF wurde da komplett ausgeschlossen. Die Rechten seien zu dumm, hieß es, die hätten keine Anführer und seien so umstellt von V-Leuten, wir würden es erfahren. Das war die Zeit, in der diese ganzen Morde stattfanden.

SPIEGEL ONLINE: Vermuten Sie eine Duldung der Behörden? Oder war es schlechte Arbeit?

Ramelsberger: Für eine Duldung gibt es keinen Beweis. Aber es gibt sehr viele Beweise dafür, dass schlampig gearbeitet wurde. Dienst nach Vorschrift, vorsätzliches Schreddern von Akten. Auch der Föderalismus ist ein Problem, wo dann die Ermittler in Sachsen, Thürigen und Brandenburg einander die Butter auf dem Brot nicht gönnen.

SPIEGEL ONLINE: Was hat die Hauptangeklagte Beate Zschäpe bei Ihnen für einen Eindruck hinterlassen?

Ramelsberger: Sie war sehr selbstbewusst, von Anfang an. Sie hat ja gegen den Willen des Gerichts sich neue Anwälte erkämpft, das muss man erst mal können. Und dann hat sie vor den alten Anwälten einen Vorhang an Eiseskälte heruntergelassen. Auch Fragen der Angehörigen hat sie nie beantwortet. Das ist auch ein Statement.

SPIEGEL ONLINE: Anwälte aus der rechten Szene, V-Männer und Zeugen - sie alle erscheinen mit wenigen Strichen wie Charakterstudien...

Ramelsberger: Nehmen Sie den Vater von Uwe Mundlos, Professor für Informatik. Da erlaubt sich der Richter die Frage, ob er mal richtig mit seinem Sohn geredet hätte. Und da bricht es aus Mundlos heraus: "Sie kleiner Klugsch …", und er kriegt sich gerade noch ein. Er will als Professor angesprochen werden, das stehe ihm zu! Solche Leute.

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Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz, Rainer Stadler, Wiebke Ramm

Der NSU-Prozess. Das Protokoll

Verlag: Verlag Antje Kunstmann GmbH
Seitenzahl: 2000
Für 80,00 € kaufen

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07.05.2024 21.07 Uhr

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SPIEGEL ONLINE: Und das Publikum?

Ramelsberger: Am Tag des Urteils hat sich gezeigt, dass die Angeklagten nicht allein waren. Auf der Besuchertribüne erschienen verurteilte Rechtsterroristen, alle in Schwarz gekleidet, wie auch die Angeklagten, das war abgesprochen. Manchen Kollegen wurde ihre Privatadresse zugeflüstert - eine glatte Bedrohung.

SPIEGEL ONLINE: Das Protokoll liest sich wie eine Tiefenbohrung in die Gesellschaft.

Ramelsberger: Das hoffe ich. Hier ist alles versammelt, was in den letzten 30 Jahren falsch gelaufen ist. Eltern, die nach der Wende keine Zeit für ihre Kinder hatten, weil sie mit sich selbst beschäftigt waren. Volkspolizisten, die nicht mehr wissen, was jetzt noch gilt und was nicht. Diese West-Importe, die sich groß aufspielten, aber nicht 1a waren, sondern nur 2b. Die Nachsicht der Justiz gegenüber jungen Leuten, die Schranken gebraucht hätten. Politiker, die den Ostdeutschen paternalistisch über den Kopf getätschelt haben, das mit der Demokratie würde sich schon noch einrenken. Nichts hat sich eingerenkt. Es wird, im Gegenteil, immer schlimmer. Dieser Prozess hat die rechte Szene nicht eingeschüchtert.

SPIEGEL ONLINE: Gab es in diesen fünf Jahren eigentlich auch erhebende Augenblicke?

Ramelsberger: Da war eine junge Frau, iranische Eltern, die war damals 19 Jahre alt und stand kurz vorm Abitur. Im Lebensmittelladen ihrer Eltern hatte kurz vor Weihnachten ein junger Mann einen Korb vorbeigebracht, mit Lebensmitteln und einer Christstollendose. Er sagte, er habe seinen Geldbeutel vergessen und komme gleich wieder. Er kam nicht wieder. Und dieser Korb stand da, drei Wochen, weil die Eltern sagten: An das Eigentum anderer Menschen geht man nicht ran. Nach drei Wochen guckte die junge Frau, was da eigentlich drin ist, und öffnete ganz leicht den Deckel der Christstollendose. Und dann ging die Bombe hoch. Ein Polizist, der sie im Krankenhaus besuchte, sagte, ihr Gesicht sah aus wie Grillfleisch. Sie lag sechs Wochen im Koma.

SPIEGEL ONLINE: Frau Ramelsberger, das ist nicht erhebend.

Ramelsberger: Noch im gleichen Jahr hat die junge Frau ihr Abitur nachgeholt. Sie ist jetzt Chirurgin an einer großen Klinik in Köln. Deutschland verlassen, das wollte sie nicht. Die Frage danach beantwortete sie vor Gericht: "Genau das wollen die doch. Die wollen dich aus Deutschland rausjagen, mich, dieses Muster an Integration." Und da gab es zum ersten Mal in diesen fünf Jahren stehenden Applaus. Da ging der Richter sofort in die Pause und hat es geschehen lassen. Erst danach hat er, wie es seine Pflicht war, die Beifallsbekundung formal gerügt. Das war einer der am meisten bewegenden Momente.

Video: Braune Zelle - Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos (SPIEGEL TV 2011)

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Anm. d. Red.: "Der NSU Prozess. Das Protokoll" hat Annette Rammelsberger zusammen mit Kolleginnen und Kollegen wie SPON-Autorin Wiebke Ramm geschrieben.