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Meinung EU-Urheberrechtsreform

Wie YouTube Millionen junger Menschen aufwiegelt

Julien Bam gehört zu den beliebtesten YouTubern. Auch über die Stars der Videoplattform verbreitet das Unternehmen: YouTube könnte bald in Europa bald abgeschaltet werden Julien Bam gehört zu den beliebtesten YouTubern. Auch über die Stars der Videoplattform verbreitet das Unternehmen: YouTube könnte bald in Europa bald abgeschaltet werden
Julien Bam gehört zu den beliebtesten YouTubern. Auch über die Stars der Videoplattform verbreitet das Unternehmen: YouTube könnte bald in Europa bald abgeschaltet werden
Quelle: pa/Maja Hitij/dpa
YouTube verbreitet Angst unter Jugendlichen: Das Unternehmen behauptet, wegen der geplanten Urheberrechtsreform der EU könnte das Portal bald schließen. Das ist unwahr – und schadet auch dem Diskurs über ein Problem unseres medialen Zeitalters.

Schulhöfe galten schon immer als ein verlockendes Ziel für Unternehmen, die junge Menschen beeinflussen wollten. Zigarettenfabrikanten züchteten Schüler zu Konsumenten heran, bevor Gesetze Werbung bei Schulen verbaten. Auch Limonaden- oder Kaugummihersteller zielten lange hartnäckig auf Schüler ab. Heute hat Googles Tochtergesellschaft YouTube diese zweifelhafte Methode für ihre politischen Interessen entdeckt.

Sie wiegelt Schüler gegen die geplante EU-Urheberrechtsreform auf, indem sie behauptet, die Video-Plattform werde in Europa geschlossen, wenn die geplante Urheberrechtsreform so verabschiedet wird wie geplant. Diese Behauptung ist absurd. Trotzdem wird sie von Millionen junger Menschen geglaubt.

Christoph Keese tritt seit Jahren für eine Anpassung des Urheberrechts an die Realitäten der Digitalökonomie ein
Christoph Keese tritt seit Jahren für eine Anpassung des Urheberrechts an die Realitäten der Digitalökonomie ein
Quelle: pa/SvenSimon/Anke Waelischmiller/SVEN SIMON

YouTube setzt die Reichweite und Macht seiner Plattform mit äußerster Entschlossenheit ein. Auf zwei Weisen wird die Drohung im jungen Publikum verbreitet. Einerseits kündigen bekannte YouTuber in millionenfach geklickten Videos an, nächstes Jahr von der Bildfläche zu verschwinden, sobald EU-Parlament, Rat und Kommission im sogenannten Trilog den Artikel 13 des Urheberrechtsrichtlinie ausgehandelt haben und das Parlament die Endfassung verabschiedet. Alarmmeldungen wie Die EU macht das Internet kaputt“, YouTube wird gelöscht!“ und „YouTube geht 2019 unter“ sind in Hunderten reichweitenstarker Videos zu sehen.

Andererseits richtet sich YouTube selbst an die Öffentlichkeit. Chefin Susan Wojcicki spricht bei Blitzbesuchen in Brüssel, in Blogposts und in Interviews von Schließung ihres Dienstes. Parallel schaltet sie Banner beim Aufrufen von YouTube in Web und App. Tagelang konnte man YouTube nicht besuchen, ohne von dieser politischen Kampagne verfolgt zu werden.

Ganz bewusst wird eine Dystopie gezeichnet, die Europas Öffentlichkeit in Stellung bringen soll, um den demokratischen Prozess zu beeinflussen. Übrigens geschieht dies erst, nachdem das Parlament als Volksvertretung den Artikel 13 mehrheitlich beschlossen hatte. Vor der Abstimmung war von YouTube wenig zu hören. Jetzt erst, nachdem die drei EU-Institutionen den endgültigen Text im Trilog miteinander verhandeln, verfällt YouTube auf die Alarmierung der Bürger.

Offenbar handelt es sich um einen Rettungsversuch nach Toresschluss. Weil man zu spät kommt, wählt man einen schrillen Ton. 35 Millionen Kanäle, behauptet YouTube, würden geschlossen werden, wenn die EU ihren Willen durchsetzt. Künftig werde in Europa nur noch das zu sehen sein, was große Medienunternehmen produzieren, sagt Susan Wojcicki. Nur bei solchen Firmen sei gewährleistet, dass rechtlich einwandfreie Videos hochgeladen werden.

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Die Wirkung dieser Drohung auf Kinder ist enorm. Sie können noch nicht zwischen Wahrheit und Propaganda unterscheiden, befinden sich aber in einer emotional tiefen Beziehung zu YouTube. Was YouTuber ins Netz stellen, berührt ihre Leben, ihre Gefühle und ihre Identität. Sie sind vom Donner gerührt, so als hätte man meiner Generation von heute auf morgen Raumschiff Enterprise“, Daktari“ und die Hitparade“ gestrichen.

Die meisten Kinder und Jugendlichen schauen kaum noch lineares Fernsehen. Sie leben in den YouTube-Welten ihrer Stars wie Dner, Paluten oder Julien Bam. Von ihnen lernen sie viel über die Welt und über das Erwachsenwerden, so wie frühere Generationen Queen, Kiss, den Doors oder den Stones nacheiferten. Für ihre Leidenschaft werden die YouTube-Kinder von ihren Eltern genauso belächelt oder kritisiert wie wir für unsere Bay-City-Rollers- und Beatles-Plakate im Kinderzimmer.

Sendestopp von YouTube bedeutet für sie so viel wie für uns das Ende von „Bravo“ und aller anderen Jugendzeitschriften auf einmal. YouTube ist eine Plattform, kein einzelner Titel. Wenn die ganze Plattform verschwindet, wirkt das auf die heutigen Jugendlichen so, als wäre bei uns damals die ganze Jugendabteilung in Kiosken und Buchläden abgebrannt.

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Wie tief der YouTube-Schock sitzt, habe ich als Vater und Onkel in den vergangenen Wochen selbst mitbekommen. Meine Familie weiß, dass ich für die Urheberrechtsreform eintrete. Ein Elfjähriger warf mir allen Ernstes vor: Ihr zerstört unsere Jugend. Die YouTuber sind wichtig für uns. Wenn ihr sie uns wegnehmt, raubt ihr uns die Kindheit.“ Er sagte das mit grimmiger Entschlossenheit. YouTube hat es geschafft, den Protest in die Familien zu tragen – dorthin, wo es den Erwachsenen richtig wehtut.

Mit dieser Aktion verbreiten Google und YouTube die Unwahrheit und missbrauchen die Vertrauensstellung, die sie bei Kindern und Jugendlichen genießen. Ihre Behauptungen entsprechen nicht der Wahrheit. Persönlich bin ich in der Sache zwar befangen, weil ich seit Jahren für diese Urheberrechtsreform eintrete. Doch auch ein unbefangener Dritter könnte die vier Falschbehauptungen, die der Kampagne zugrunde liegen, leicht entlarven:

Erstens: Schon die Ankündigung, YouTube müsse Millionen Kanäle bereits im Jahr 2019 schließen, führt in die Irre. Beim laufenden Gesetzgebungsverfahren handelt es sich um eine EU-Richtlinie. Eine Richtlinie ist kein Gesetz. Sie entfaltet keine unmittelbare Rechtswirkung, sondern verpflichtet die Mitgliedstaaten lediglich, sie binnen zweier Jahre in nationales Recht umzusetzen.

Start für die deutschen „YouTube Originals“

Youtube startet in Berlin die ersten deutschen "Youtube Originals". Gezeigt werden aufwändig produzierte Serien, Shows und Dokus. Mit dabei sind BullshitTV mit Bullsprit, Phil Laude (ex Y-Titty) mit "Neuland" und "LeFloid vs. The World".

Quelle: WELT/ Martin Heller

Selbst wenn das Parlament das Paket Anfang 2019 beschließen sollte, träten die nationalen Gesetze erst 2021 in Kraft. Von einer Schließung im nächsten Jahr kann also keine Rede sein. Es verwundert, warum ein Weltkonzern eine derartige missleitende Behauptung verbreiten kann. Wer das Einmaleins der europäischen Gesetzgebung kennt, weiß, dass eine Schließung im kommenden Jahr völlig ausgeschlossen ist.

Zweitens: Es wird nicht zu Aussperrungen von Millionen YouTubern kommen. YouTuber sind von der Reform weder im Kern gemeint, noch sind sie wirklich betroffen. Der EU geht es um Raubkopien. YouTuber aber verbreiten keine Raubkopien, sondern produzieren ihre Videos selbst. Sie sind Produzenten und keine Piraten. Als Produzenten sind sie Inhaber ihrer eigenen Rechte. Mit dem Veröffentlichen auf YouTube verfügen sie rechtmäßig über ihr eigenes Eigentum. Sobald sie ein Video hochladen, akzeptieren sie YouTubes Geschäftsbedingungen und werden – sofern gewünscht und groß genug – an den Werbeerlösen ihrer Werke beteiligt.

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Nebenbei bemerkt: Die Konditionen für die Werbebeteiligung sind schändlich schlecht. Doch das ist Sache der YouTuber. Wenn sie sich als geschäftsfähige Erwachsene von YouTube ausbeuten lassen möchten, wird ihnen das niemand verwehren. Wo also liegt das Rechtsrisiko für YouTube? Offensichtlich nicht beim Video selbst. YouTube behauptet, es läge in den Begleitumständen. Geschäftsführerin Susan Wojcicki meint: Was, wenn an der Wand hinter ihnen ein urheberrechtlich geschütztes Gemälde hängt oder wenn ein Popsong im Hintergrund läuft oder wenn sie ganze Passagen aus einem Buch vorlesen?“

Die Antwort auf diese Frage ist denkbar einfach. In vielen Fällen gibt es gar kein Problem, und dort, wo es eines gibt, wird es sich durch die Reform überwiegend in Wohlgefallen auflösen. Warum? Zum einen sind Zitate aus geschützten Werken auch heute schon ausdrücklich erlaubt. Wer einige Passagen aus einem Buch vorliest, begeht kein Unrecht, sofern er vernünftige Grenzen einhält. Zum anderen wird die Reform die allermeisten YouTuber zu mehr Achtsamkeit bei künstlerischen Werken Dritter anregen. Die Zahl der Rechtsbrüche durch eingeblendete Musik, Bilder oder Videos wird sinken, weil die Reform klarstellt, dass dies nicht legal ist. Ein dann einsetzender Regelkreis wird heilsame Wirkung entfalten.

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Weil YouTuber wissen, dass sie mit dem nicht lizensierten Abspielen von Werken Dritter eine Sperrung durch YouTube riskieren, werden sie vorsichtiger mit geistigem Eigentum umgehen und sich aus der Gefahrenzone heraushalten. Das heißt nicht, dass sie keine Musik mehr abspielen dürfen. Die Musik verschwindet nicht aus Videos. Es heißt nur, dass sie sich die Rechte besorgen müssen.

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Das ist die normalste Sache der Welt und nicht zu viel verlangt. Alle anderen gewerblichen Produzenten tun das seit mehr als einem Jahrhundert. Warum sollten YouTuber eine Ausnahme sein? Rechte zu besorgen, ist leicht und preiswert. Es ist nur legitim, Plattformen und ihre Zulieferer in einen Rechtsrahmen zu weisen, der für jeden anderen auch gilt.

Drittens: Verletzungen von Rechten Dritter sind bei YouTubern die Ausnahme, nicht die Regel. YouTuber sind stolz auf ihre eigenen Leistungen. Kreativität, Spielfreude und Professionalität gehören zu ihrem Selbstverständnis. Die allermeisten von ihnen sehen sich als Fernsehproduzenten einer neuen Generation. Gerade weil sie kreativ und eigenständig sind, grenzen sie sich von Piraten ab. Auch wenn es einzelne Regelbrecher in ihren Reihen gibt, besteht kein Grund, Millionen von YouTubern in Sippenhaft für Einzelfälle zu nehmen.

YouTube droht einer großen und unschuldigen Mehrheit mit Aussperrung, um seine eigenen wirtschaftlichen Interesse zu verteidigen. Dies ist ein Akt der Geiselnahme unbescholtener Produzenten, von deren Leistungen YouTube als Plattform in besonderer Weise zehrt. YouTube lebt von seinen Stars. Das Unternehmen sollte sie nicht als politisches Schutzschild missbrauchen.

Viertens: YouTube wird seinen europäischen Dienst schon aus wirtschaftlichem Eigennutz nicht einstellen. Google gibt Zahlen für seine Tochter YouTube nicht bekannt. Daher sind Umsatz und Gewinn der Vermutung überlassen. Analysten-Schätzungen des Firmenwerts von YouTube pendeln um 70 Milliarden Dollar. Der Umsatz liegt vermutlich jenseits von 12 Milliarden Dollar. Angeblich schreibt YouTube Gewinne, auch wenn es nicht so hohe Margen erreicht wie Google. In jedem Fall ist YouTube ein großes, wohlhabendes, stark wachsendes Unternehmen. Es besitzt genug Geld, um sicherzustellen, dass keine gestohlenen Inhalte auf seine Server hochgeladen werden.

Viel teurer, als Geld für die Rechtstreue auszugeben, wäre es für YouTube, seinen Dienst in der EU komplett einzustellen. Vermutlich erzielt YouTube 15 bis 20 Prozent seiner Weltumsätze in der Europäischen Union inklusive Großbritannien. Wenn die Umsatzschätzungen stimmen sollten, wären das 1,2 bis 2,4 Milliarden Dollar, vermutlich sogar mehr. So viel Geld kann eine Investition in Rechtstreue gar nicht kosten, als dass man so viel Umsatz von heute auf morgen abstellen würde.

Kurzum: Es ist wirtschaftlich viel sinnvoller, das neue EU-Recht zu befolgen, als sich komplett aus Europa zurückzuziehen. YouTube wird sicherlich nicht gegen sein eigenes finanzielles Interesse handeln. Mutter Google ist ein ausgebuffter Erzkapitalist, der noch nie freiwillig auf einen Cent verzichtet hat. Im Zweifel schadet Google erfahrungsgemäß lieber seinem Ruf als seiner Bilanz.

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Aus diesen vier Gründen dürfen wir YouTubes Drohung getrost als Säbelrasseln in der Hitze des politischen Gefechts werten. Was garantiert nicht geschehen wird, ist, dass YouTube in Europa wegen der Urheberrechtsreform schließt, schon gar nicht im Jahr 2019. YouTube wird aus Europa nicht verschwinden. Seine Drohung läuft leer und zeigt einmal mehr, dass Google mehr an der politischen Aktion gelegen ist als an der Kraft des Arguments und der konstruktiven Teilnahme an einem gesellschaftlichen Prozess.

Christoph Keese ist Geschäftsführender Gesellschafter der Axel Springer hy GmbH, Buchautor („Silicon Valley“, „Silicon Germany“, „Disrupt Yourself“) und Aufsichtsrat der Verwertungsgesellschafter Media.

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