Es ist eine Premiere in der Geschichte der Ukraine: Auf Drängen von Präsident Petro Poroschenko steht das Land unter Kriegsrecht. Er begründete den Schritt mit der russischen Aggression in der Straße von Kertsch und der neuen Kriegsgefahr an Ukraines Ostgrenze. Nach einer emotionalen Debatte bestätigte das Parlament am Montag Poroschenkos Entscheidung.
Einige Oppositionelle blockierten die Tribüne, es kam zu Handgreiflichkeiten, die Sitzung musste unterbrochen werden. Abgeordnete wie Poroschenkos Konkurrentin Julia Timoschenko forderten eine abgeschwächte Form – am Ende wurde eine von Poroschenko entschärfte Fassung angenommen. Gegen das Kriegsrecht stimmten lediglich Abgeordnete des prorussischen Oppositionellen Blocks.
Ursprünglich hatte sich Poroschenko für ein landesweit geltendes 60-tägiges Kriegsrecht ausgesprochen. Das löste den Protest vieler Parlamentarier aus.
Denn das würde bedeuten, dass dieser Ausnahmezustand mit dem offiziellen Beginn der Wahlkampagne für die Präsidentschaftswahlen am 31. März kollidiert. Das hätte dem Präsidenten, so die Befürchtung vieler Poroschenko-Kritiker, die Möglichkeit gegeben, die Wahl angesichts seiner schlechten Umfragewerte zu verschieben.
Das am Dienstag ausgerufene Kriegsrecht soll nun 30 Tage gelten und lediglich in jenen zehn Regionen des Landes angewendet werden, die an Russland, das Schwarze Meer und Moldawiens abtrünnige Region Transnistrien grenzen, wo russische Truppen stationiert sind. In den betroffenen Regionen lebt allerdings fast die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung.
Darüber hinaus legte das Parlament den 31. März als Tag der Präsidentschaftswahl fest. Halbe Zeit, halbes Land und ein Kompromiss, der die Gefahr für Ukraines Demokratie bannt?
Viele Beobachter sehen das anders, darunter die drei ersten demokratischen gewählten Präsidenten der Ukraine, Leonid Krawtschuk, Leonid Kutschma und Wiktor Juschtschenko. Sie kritisieren das Kriegsrecht grundsätzlich. In einer gemeinsamen Erklärung warnen sie vor einer „radikalen Einschränkung der Bürgerrechte“ wie dem Recht des Präsidenten, Großveranstaltungen wie Demonstrationen zu verbieten und die Arbeit von Parteien einzuschränken.
Auch für die Wirtschaft des Landes sei das Kriegsrecht ein Risiko, nicht zuletzt wegen möglicher Folgen für das Geschäftsklima und den Kurs der Nationalwährung.
Auch westliche Experten kritisieren das Kriegsrecht, wie Mattia Nelles vom Berliner Thinktank Zentrum für liberale Moderne oder der Leiterin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien, Gwendolyn Sasse, die trotz der Beschränkung auf 30 Tage von einer „extremen politischen Maßnahme“ spricht. „Auf die aktuelle Krise in der Meerenge von Kertsch wird das Kriegsrecht nur bedingt Einfluss haben“, schreibt Sasse. „Der Schritt bringt die Krim und den Krieg in der Ostukraine zurück auf die internationale Tagesordnung, wird aber nicht als Abschreckung gegenüber Russland wirken.“
Unterstützung des Volkes verloren
Nelles weist darauf hin, dass Poroschenkos Kriegsrecht ausgerechnet in den Regionen gilt, wo die Popularität des Präsidenten und seiner Politik besonders niedrig ist. Das wirft die Frage nach möglichem Druck auf lokale Behörden auf – und hat politisch einen Beigeschmack. Denkbar wäre etwa, dass Poroschenko Veranstaltungen der Opposition verbieten lässt.
Noch weiter in seiner Kritik geht der ukrainische Maidan-Unterstützer und Journalist Maxim Eristavi in einem Gastbeitrag für die „Washington Post“. Die Ukraine habe natürlich recht, eine entschiedene Antwort der Weltgemeinschaft auf die russische Aggression einzufordern.
Doch die Entscheidung, das Kriegsrecht einzuführen, könnte Putin bei seinen destruktiven Zielen in der Ukraine „besser von Nutzen sein als sein militärisches Taktieren“, warnt Eristavi.
Poroschenko, dessen Umfragewerte sich inzwischen im knapp zweistelligen Bereich bewegen, habe jede Unterstützung seines Volkes verloren und greife nun faktisch zu Notstandsverordnungen. Damit könnte man ihm aber nicht vertrauen, schreibt Eristavi.
Poroschenko mache weiterhin Deals mit Oligarchen, könne Journalisten, Whistleblowern und Aktivisten aus der Zivilgesellschaft keinen Schutz garantieren und weigere sich, Details zu seinen Treffen mit Wladimir Putins Vertrauensperson in der Ukraine, Wiktor Medwedtschuk, öffentlich zu machen. Poroschenko habe mit dem Kriegsrecht nun „unzählige Möglichkeiten für Manipulationen in wahlentscheidenden Regionen bekommen“.
Das ist eine Argumentation, die viele in der ukrainischen Zivilgesellschaft angesichts der Enttäuschung über Poroschenko zu teilen scheinen.
Auch Eristavi zweifelt an Poroschenkos Begründung für die Einführung des Kriegsrechts. Schließlich habe in der Ukraine in den schlimmsten Momenten des russischen Angriffskrieges kein Kriegsrecht gegolten: Weder zur Zeit der Krimannexion 2014 noch während der Einkesselung der ukrainischen Streitkräfte in Debaltsewe im Sommer 2015 noch während der Kämpfe um Awdiiwka im Februar 2017.
„Vor einer zweiten russischen Invasion gerettet“
Alles in allem könnte das Kriegsrecht ein „Todesurteil“ für Ukraines Demokratie sein, warnt Eristavi.
Aber auch außerhalb des Machtzirkels von Poroschenko gibt es Experten, die seine Entscheidung unterstützen. Der Politikberater Alexej Golobutzki meint etwa, Poroschenkos entschiedenes Handeln habe die Ukraine „vor einer zweiten russischen Invasion gerettet“. Die Provokation in der Straße von Kertsch sei ein Test Wladimir Putins gewesen, sagte Golobutzki im Interview mit dem Fernsehsender TV24.
Putin habe stattdessen mit Poroschenkos Schwäche gerechnet, glaubt der Experte. Dieser habe aber im Gegenteil alle Ressourcen und internationalen Kontakte eingesetzt, um zu verhindern, dass Russland den Zugang zum Asowschen Meer schließt. In den nächsten 30 Tagen wird sich zeigen, ob es Petro Poroschenko um die Sicherheit der Ukraine geht oder um seine eigene politische Zukunft.