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"Aggregat": Was hält die Einzelteile zusammen?

Foto: Kundschafter Filmproduktion

"Aggregat" - Film der Woche Unsere gespaltene Republik

Reise durch eine verunsicherte Republik: Wie haben Migration und Rechtspopulismus das Land verändert? Die stille und genaue Momentaufnahme der Filmemacherin Marie Wilke ist unser Film der Woche.

Ein Informationsbus des Bundestags, irgendwo im Osten. Drinnen redet ein älterer Mann auf einen Mitarbeiter des Parlaments ein. "Es fehlt die Volksnähe, die Verbundenheit", sagt der Mann. Ein anderer erklärt, man habe "die Ausländer reingeholt, ich zahle für diese, aber meine Rente soll immer mehr gekürzt werden."

Zwei Aussagen aus Deutschland. Sätze, die unkommentiert stehen bleiben. So wie alle Szenen im Film "Aggregat" von Marie Wilke, der in dieser Woche in die Kinos kommt.

Es ist ein kleiner Film mit einem großen Thema. Regisseurin Wilke, Jahrgang 1974, und ihr Team haben sich auf die Spurensuche nach dem deutschen Gemütszustand begeben, der der Migration von einer Million Flüchtlinge im Jahr 2015 folgte. Es wurde eine Reise in ein gespaltenes Land.

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"Aggregat": Was hält die Einzelteile zusammen?

Foto: Kundschafter Filmproduktion

Gedreht wurde 2016 und 2017 in Berlin und im Osten der Republik, unter anderem im Bundestag, auf einer Pegida-Kundgebung in Dresden, einer Pressekonferenz mit der damaligen AfD-Vorsitzenden Frauke Petry, auf Redaktionskonferenzen der "taz" und der "Bild", im MDR-Funkhaus, unter SPD-Mitarbeitern und Abgeordneten. Herausgekommen sind vielschichtige Momentaufnahmen einer Wirklichkeit, die eines Tages zum Archiv dieser Republik gehören werden.

Es ist ein leiser Film geworden. Eine Leistung schon an sich angesichts der Aufgeregtheiten in den sozialen Medien, den wüsten Beschimpfungen, die seit der Migrationsbewegung die Gesellschaft vergiften. Wilke, einst selbst als Cutterin für Nachrichtensendungen zuständig, verlangt ihren Zuschauern genau das ab, was heute vielen abhanden zu kommen droht - die Fähigkeit, zuzusehen und zuzuhören.

Ähnlich hatte Wilke 2015 in ihrem Film "Staatsdiener" gearbeitet, der die Ausbildung junger Beamtinnen und Beamten an einer Polizeischule in Sachsen-Anhalt zeigte. Ihr Stilmittel, aus einer zurückhaltenden Perspektive zu beobachten - in "Aggregat" hat sie es noch einmal reduziert.


"Aggregat"
D 2018

Buch und Regie: Marie Wilke
Produktion: Kundschafter Filmproduktion, ZDF
Verleih: Zorro Film
Länge: 92 Minuten
Start: 29. November 2018


Nicht alles ist dabei gelungen, es gibt Längen und auch Aufnahmen, die wenig Erhellendes zeigen. Doch insgesamt tragen die Bilder. Die stärksten Szenen hat Wilke im Milieu der SPD eingefangen, einer Partei, die geschrumpft ist, deren angestammte Milieus sich ab- und zum Teil der AfD zuwenden.

Wilke zeigt diese Verunsicherung anhand eines Seminars von Mitarbeitern und SPD-Bundestagsabgeordneten, die den Umgang mit dem Rechtspopulismus einzuüben versuchen. Ein Mediator will wissen, mit welchen Fragen sie in ihren Wahlkreis-Versammlungen konfrontiert werden. "Die kriegen alles, und wir kriegen nichts", sagt eine SPD-Frau, eine andere, "Die kommen alle, kriegen zehn Kinder und verdrängen die Europäer." Die Aufnahmen sind bedrückend, dokumentieren sie doch ratlose Mitarbeiter, Bundestagsabgeordnete und Mediatoren, die darüber nachdenken, wie die SPD die Fragen aus der Bevölkerung "in einen demokratischen Rahmen stellen" könne.

Das Schlagwort vom Rechtspopulismus meidet Wilke konsequent. In "Aggregat" - der aus dem Lateinischen stammende Begriff steht für die Verbindung von Elementen - geht es um mehr: Darum, den mühsamen Prozess in einer parlamentarischen Demokratie zu zeigen. Da ist der sächsische SPD-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Martin Dulig, er wirkt wie der Phänotyp des geduldigen Genossen: Auf einer mäßig besuchten SPD-Veranstaltung hört er sich die wütenden Klagen von Bürgern an.

Den Gefühlsausbrüchen wird in späteren Sequenzen die kraftzehrende Arbeit an der Basis gegenübergestellt, in der eine Schar von sächsischen SPD-Mitgliedern um einzelne Formulierungen eines Textes ringt und zur Abstimmung bringt. Wer diese Wenigen sieht, dem nötigt ihr Engagement Respekt ab.

Die Realität eines Landes ist zusammengesetzt aus vielen Realitäten, auch das zeigt der Film in einer Szene im linksalternativen Milieu unabsichtlich mit feiner Ironie: Eine "taz"-Reporterin trägt einer Kollegin ihre Recherche zur angepeilten Geschichte aus dem AfD-Milieu vor. Irgendwann geht es nicht mehr um die AfD, sondern nur noch darum, dass "auch eine Frau" in der Reportage auftauchen muss. So konstruiert sich jedes Milieu seine eigenen Notwendigkeiten und wird damit Teil einer Gesamtwirklichkeit.

"Aggregat" beginnt seine ersten Bilder im Bundestag und endet dort konsequenterweise auch - in einem Raum, durch den Bürger an einem Bild des Malers Anselm Kiefer vorbeiziehen. Das monumentale Werk trägt die Zeile "Nur mit Wind mit Zeit und mit Klang" der Lyrikerin Ingeborg Bachmann. Es wirkt wie eine Mahnung - daran, wie gefährdet und vergänglich auch diese zweite deutsche Demokratie sein kann.