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Der 6. Januar 1988 war einer dieser Mittwoche, an denen viel los war in dem alten Barockgebäude in der Klosterstraße in Ostberlin, das damals den Namen Haus der jungen Talente (HdjT) trug und heute wieder Palais Podewils heißt, nach seinem einstigen Besitzer, dem Außenminister Friedrichs des Großen. 70 bis 80 Leute drängten sich an jenem Wintertag in den Raum im ersten Stock, in dem sonst der Omnibus-Chor probte. Immer mittwochs trafen sich dort die Mitglieder des Computerklubs. Es waren vor allem junge Leute, die meisten um die 20 Jahre alt, manche auch erst 16.

Zwar gab es in den Achtzigerjahren in der ganzen Deutschen Demokratischen Republik solche Clubs (die meist mit "k" geschrieben wurden), allein rund 20 in Ostberlin. Doch zu den Treffen im HdjT kamen auch Menschen von weit her angereist. Denn obwohl es das zentrale Clubhaus des sozialistischen Jugendverbandes FDJ war, standen auf den Tischen keine in der DDR produzierten Computer. Sondern welche aus dem Westen.

Der Computerklub im HdjT in den Achtzigerjahren, eine reine Jungs- und Männergesellschaft. In der Mitte vorm Rechner: Stefan Paubel © Stefan Paubel

An diesem Januartag etwa waren dort ein C128 und zwei C64 des US-Herstellers Commodore nebst Diskettenlaufwerk aufgebaut. Die DDR-Computer der Baureihen KC 85 des Volkseigenen Betriebs (VEB) Mikroelektronik "Wilhelm Pieck" Mühlhausen und KC 87 des VEB Robotron hätte Stefan Paubel, der den Computerklub im HdjT im Januar 1986 gegründet hatte und dann leitete, auch gar nicht akzeptiert. "Der KC 85 war ja nun wirklich nicht so toll, daher habe ich bei der Leitung des HdjT angefragt, ob wir nicht Westtechnik verwenden können", sagt Paubel heute. "Kurioserweise hat der Direktor sofort zugesagt, und ich habe zwei C64 und ein Diskettenlaufwerk in einem Köpenicker An- und Verkauf besorgt." 25.000 Ostmark durfte Paubel insgesamt ausgeben für die Ausstattung, 6.500 Ostmark bezahlte er pro C64.

Das Commodore-Modell war der damals weltweit meistverkaufte Heimcomputer. Doch wäre es nach dem Westen gegangen, hätten die Rechner gar nicht ihren Weg in die DDR finden dürfen. Denn Mikroelektronik stand auf der 1988 noch geltenden Embargoliste des Coordinating Committee on Multilateral Export Controls (Cocom): Die westlichen Staaten hatten sich dazu verpflichtet, keine Technologiegüter in die sozialistischen Länder des Ostblocks zu liefern. Die C64 gelangten jedoch am Embargo vorbei in die DDR, und deren Zoll ließ das geschehen. Westliche Hardware durfte gern eingeführt werden. Im Fall von Software und insbesondere von Computerspielen war das anders. Deren Inhalte beschäftigten die Staatsorgane der DDR sehr.

Grafikprogramme hingegen nicht so, und für die interessierte sich Stefan Paubel vor allem. Er hatte Maschinenbau studiert, Mitte der Achtzigerjahre seine Begeisterung für Computer entdeckt und deshalb den Club gegründet. Bei den Treffen im HdjT hielt er Vorträge, eben über Grafiksoftware und Programmiersprachen. Im Jahr 1988 war Paubel im Vergleich zu den meist jugendlichen Besuchern, die sich eher für C64-Games begeisterten, schon relativ alt mit seinen 34 Jahren.

"Um 16.45 Uhr betrat der A. den Raum des Computerklubs": Ausriss aus einem der IM-Berichte zum HdjT

Einer, der am 6. Januar 1988 im Club war, hielt Paubel indes für jünger, für "circa 25 bis 30 Jahre, Bart, Nickelbrille". So ist Paubel beschrieben in einer auf den 12. Januar 1988 datierten Operativen Information des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), des DDR-Geheimdienstes: Das MfS hatte einen Inoffiziellen Mitarbeiter, kurz IM, ins HdjT geschickt, damit der sich dort umschaute und unter die Leute mischte. Der IM war selbst ein junger Mann und nominell Kader des Wachregiments der Nationalen Volksarmee. Das konnte bedeuten, dass er tatsächlich Soldat war. Kader war in der DDR aber auch der Begriff für einen Kandidaten auf einen Posten. Für den könnte sich der junge Mann, der offenbar selbst noch Schüler war, mit seinem Einsatz im Haus der jungen Talente interessant gemacht haben. Die Beobachtungen jedenfalls, die er dort in seiner Rolle als IM gemacht hatte, schilderte er danach einem MfS-Offizier, der sie wiederum in der Operativen Information zusammenfasste.

Das Dokument gehört zu einem rund 600-seitigen Konvolut von Stasiunterlagen zum Thema Computerspiele und Jugendszene der Gamer in der DDR – kurz vor deren Ende. Sie erlauben weitreichende Einblicke darin, wie staatliche Stellen Computerspiele und Computerbegeisterte betrachteten, und in das damals heraufziehende digitale Zeitalter. ZEIT ONLINE hat diese Akten aus dem Bestand des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU) drei Jahrzehnte nach ihrem Entstehen erstmals ausgewertet. Wir haben neben Paubel auch mit einstigen Besuchern des Hauses der jungen Talente gesprochen, die erstmals im vergangenen Jahr dem Spielemagazin Game Star von ihren Erinnerungen berichtet hatten.

Dank der Operativen Information lässt sich heute die Zahl der bei jenem Treffen im Januar 1988 Anwesenden ("70 bis 80 Personen") sowie deren geschätzter Altersdurchschnitt ("22 bis 23") nachzeichnen. Der IM berichtete zudem, er sei von den anderen jungen Leuten "normal, aber nicht misstrauisch aufgenommen" worden und habe in Gesprächen festgestellt, dass "mehrere Teilnehmer über den Computer Commodore 64 verfügen und dieser Besitz als Grundlage zur Mitgliedschaft im Computerklub betrachtet wird". 

Der IM hatte sich auch die Technikausstattung des Clubs mit den Commodore-Rechnern gemerkt und diese Information weitergegeben; in den ZEIT ONLINE vorliegenden Unterlagen gibt es darüber hinaus noch eine genauere Inventarliste, die offenkundig von einer anderen Quelle stammt. Sogar Kopien der Rechnungsbelege des An- und Verkaufs in Köpenick, bei dem Stefan Paubel die beiden C64 und das Diskettenlaufwerk gekauft hatte, sind erhalten. "Vermutlich haben die sich die Unterlagen von der HdjT-Leitung besorgt", sagt Paubel.

Dass staatliche Organe der DDR die Aktivitäten des Computerklubs misstrauisch beäugten, war Paubel schon vor 30 Jahren klar. Er wusste nur nicht, was genau die Stasi wusste. Und wer sie wie mit Informationen belieferte.

Einmal wurde Paubel vom Direktor des HdjT in dessen Büro bestellt, ein Paubel unbekannter Mann saß dort bereits und forderte ihn auf, eine Namensliste der Clubmitglieder anzufertigen. Für welche staatliche Stelle der Mann arbeitete, sagte er nicht. Paubel überlegte kurz – und weigerte sich dann. Eine echte Mitgliedschaft gab es ohnehin nicht, der Club war offen für alle Interessierten, viele Leute kamen unregelmäßig, es waren fast ausschließlich Jungen und Männer. Paubels Weigerung, Namen von Besuchern zu nennen, hatte keinerlei Konsequenzen, er hörte von dem Mann und seinem Anliegen nie wieder. Die Stasi, stellt sich heute heraus, kannte ohnehin einige der Clubbesucher, eine Liste mit Namen und Kontaktdaten findet sich in den Akten des MfS.

Sie nennen sich "freaks"

Bei deren Auswertung wird deutlich: Das MfS hat die in den Achtzigerjahren in der DDR entstandenen Computerclubs von Anfang an beobachtet, den im Haus der jungen Talente seit dessen Gründung 1986. In einem weiteren Stasidokument, datiert auf den 15. März 1985 und stammend aus der MfS-Bezirksverwaltung Leipzig, wird bereits zuvor über einen anderen clubähnlichen Zusammenschluss in Ostberlin berichtet, "80 Computerinteressierte" hätten sich zusammengetan und Treffen auch in Dresden geplant. Die "in dieser Verbindung einbezogenen Personen nennen sich 'freaks'", heißt es in dem Dokument.

Heimcomputer wie der C64 waren damals noch eine recht neue Geräteklasse: Zum ersten Mal gab es Computer in Privathaushalten, und zumindest in Ostberlin (weit mehr als im Rest der DDR) fand der C64 ab Mitte der Achtzigerjahre eine größere Verbreitung. Das MfS überwachte damals die Datensicherheit in den staatlichen Stellen und den Betrieben in der DDR, zuständig war die sogenannte Zentrale Arbeitsgruppe Geheimnisschutz (ZAGG), die auch als Verbindungsorganisation zwischen den MfS-Dienststellen fungierte. In zahlreichen dieser Dienststellen wurden die entstehenden Computerclubs sowie einzelne Mitglieder erfasst: Der sozialistische Staat, dessen Führung die Mikroelektronik im Jahr 1977 per Beschluss des Zentralkomitees der SED zur Schlüsselindustrie erklärt hatte, wollte wissen, was die Leute mit ihren Computern anstellten.

In der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Berlin fertigte der Leiter der dortigen Arbeitsgruppe Geheimnisschutz (AGG), die die Entsprechung der ZAGG auf Bezirksebene war, am 28. November 1988 ein Zwischenfazit seiner Erkenntnisse bei der Nutzung dezentraler Rechentechnik im Freizeitbereich an. Das vierseitige, technologisch erstaunlich kenntnisreiche Papier liest sich heute wie ein Ausblick auf das damals entstehende Informationszeitalter. Mit dessen Auswirkungen wurden die staatlichen Organe der DDR allerdings nicht mehr konfrontiert: Ein Jahr später fiel die Mauer, zwei Jahre später gab es die DDR nicht mehr.

Das konnte der Leiter der AGG in der Berliner Stasidependance Ende 1988 nicht ahnen. In seinem Bericht zählte der Oberstleutnant zunächst die dem MfS bekannten "Interessengemeinschaften" von privaten Computernutzern in der DDR auf, neben der im HdjT etwa den C16-Club Dresden, den Commodore Club Jena und die Atari Interessengemeinschaft Rostock. Diese beschäftigten sich in der Regel "mit Software-Tausch sowie den verschiedensten Hardware-Erweiterungsmöglichkeiten".

Verfestigte negative Haltung

Der Stasimann warnte seine Kollegen und Kolleginnen in anderen Dienststellen: "Da sich innerhalb der Interessengemeinschaften oder Computerclubs auch Mitglieder befinden, die nachweislich eine verfestigte negative Haltung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung haben, besteht die potenzielle Gefahr der negativen Ausrichtung der Interessengemeinschaften oder Computerclubs. Exponenten des politischen Untergrundes nutzen zunehmend Computer, deren Einfuhr und Beschaffung zum Beispiel über kirchliche Kreise erfolgt." Auch betrieben "einige Besitzer von privater Computertechnik (...) einen ausgedehnten Handel mit Hard- und Software. Bei der Software handelt es sich in vielen Fällen um Kopien aus dem NSW (Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet, also aus dem Westen, d. Red.), die so in der DDR verbreitet werden". Aus dem Westen importierte Disketten könnten, so die Befürchtung, in Rechnern in den VEBs landen; sollten darauf Viren sein, könnten sie auf den Betriebscomputern Schaden anrichten. Der Stasimann beschreibt damit ein damals noch kaum bekanntes Phänomen.

Er sprach auch eine Reihe von Empfehlungen zur "vorbeugenden Abwehrarbeit" aus. Etwa das "Aufklären der begünstigenden Bedingungen zur Unterwanderung der bestehenden Interessengemeinschaften und Computerclubs durch den Gegner", das "Erkennen von feindlich-negativen Handlungen durch Einzelpersonen in Verbindung mit der Nutzung der privaten Rechentechnik" und das "Aufklären von Personen, die einen spekulativen Handel mit Hard- und Software betreiben, vorrangig mit verbotener Software mit revanchistischen oder antikommunistischen beziehungsweise mit antisemitischen Inhalt (sic)".