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Bundestagsabgeordneter Marco Bülow SPD-Austritt nach 26 Jahren: "Es wird kurz links geblinkt - und es verändert sich nichts"

Interview mit SPD-Aussteiger Marco Bülow
"Es wird kurz links geblinkt - und es verändert sich gar nichts", kritisiert der Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow an der SPD im Gespräch mit dem stern
© Kay Nietfeld / DPA
Marco Bülow hat seinen Austritt aus der SPD bekannt gegeben - versehen mit einer opulenten Erklärung, die polarisiert. Warum er sein Bundestagsmandat dennoch behalten will, wen und was er für das "Versagen" der SPD verantwortlich macht und welche Parteien ihn angeblich umwerben erzählt er im stern-Interview. 

Er sei ein "Rebell", ein "Solo-Kämpfer", aber auch eine "ewige Ich-AG": Marco Bülow, 47, ist, oder jetzt richtig: war SPD-Bundestagsabgeordneter. Er hat seiner Partei den Rücken gekehrt. Nach 26 Jahren als Mitglied und 16 Jahren im Bundestag hat Bülow seinen Rücktritt bekannt gegeben. Seine Austrittserklärung, in der auf rund 25.000 Zeichen mit den Genossinnen und Genossen ins Gericht geht, polarisiert.

"Die Kritik, die ich aktuell erfahre, kann nur Verleumdung sein", sagt Bülow im Interview mit dem stern. "In der SPD ist es einfach nicht möglich, Meinungen zu vertreten, die sich gegen die Linie der eigenen Partei stellen." Ein Gespräch über Glaubwürdigkeit, Kritiker, die SPD in der Großen Koalition und seine politische Zukunft - in einer anderen Partei?

Interview mit SPD-Aussteiger Marco Bülow
"Es wird kurz links geblinkt - und es verändert sich gar nichts", kritisiert der Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow an der SPD im Gespräch mit dem stern
© Kay Nietfeld / DPA

SPD-Aussteiger Marco Bülow: "Es wird kurz links geblinkt - und es verändert sich gar nichts"

Herr Bülow, wann haben Sie sich entschlossen, aus der SPD auszutreten?

Marco Bülow: Im Endeffekt war es ein langer Prozess, endgültig habe ich mich in den letzten Wochen entschieden. Vor allem nach den beiden desaströsen Landtagswahlen für die SPD in Hessen und in Bayern hat meine Entscheidung konkret Form angenommen. Die Parteispitze hat keine Konsequenzen aus den Niederlagen gezogen. Der Forderung nach einem Sonderparteitag, die ich auch angestoßen habe, ist man nicht nachgekommen. Niemand in der Parteiführung möchte Verantwortung übernehmen. Jegliche innerparteiliche Kritik ist geradezu verpufft. Da habe ich für mich entschieden, dass es keine Hoffnung mehr auf Besserung und eine Zukunft in der Partei für mich gibt.

Sie haben eine bemerkenswerte Erklärung zu Ihrem Austritt vorgelegt: Strukturen, Personen, Ausrichtung –auf knapp 25.000 Zeichen gehen Sie mit der SPD in all Ihren Facetten ins Gericht. Sie würden gern vieles ändern. Zu viel für eine Volkspartei, die sich in einer Koalition befindet und sich erneuern will?

Ja, auch deswegen habe ich davor gewarnt, dass eine Beteiligung an einer Große Koalition nicht dazu geeignet ist, um sich als Partei zu erneuern. Die Bundestagswahl hat einmal mehr gezeigt, dass sich die SPD in diesem Bündnis nur im freien Fall befinden kann. Wir haben viele Wählerinnen und Wähler verloren und die Chance verworfen, dem entgegenzuwirken. Wir müssen endlich umsteuern, die Ausrichtung und Struktur der SPD schärfen und erneuern. Das ist in einer Großen Koalition nicht möglich. 

Die einhellige Meinung: Ich soll mein Mandat behalten

Immer wieder kommen Sie in Ihrer Erklärung auf die Große Koalition als ein zentrales Problem der SPD zurück. Bereits vor fünf Jahren haben Sie sich gegen das Bündnis ausgesprochen. Warum haben Sie die SPD also nicht nach dem erneuten Eintritt in die GroKo verlassen?

Der erneute Eintritt in die Große Koalition hat meine Entscheidung natürlich beeinflusst. Das war eine schwierige Zeit für mich - ich bin und bleibe nun mal Sozialdemokrat. Aber für mich ist auch klar: Eine Große Koalition darf es nur in Sondersituationen geben.

Waren die Bundestagswahl 2017 und die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen keine Sondersituation für Sie? Die SPD ist letztlich auf Bitten von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in die GroKo-Sondierungen gegangen.

Zuerst einmal: Vor fünf Jahren war eine Rot-Rot-Grüne Mehrheit möglich. Diese Chance hat die SPD nicht genutzt. Und dass nach der letzten Bundestagswahl nur eine Große Koalition möglich gewesen sei, stimmt nicht: Auch eine Minderheitsregierung wäre möglich gewesen.

Ich habe bereits vor fünf Jahren davor gewarnt, dass durch eine Große Koalition die Ränder gestärkt werden. Nun sitzt mit der AfD eine rechtspopulistische Partei im Bundestag, die regelmäßig an Zustimmung gewinnt. All das, in Summe, hat mich stark mit meiner Rolle in der SPD hadern lassen: Mache ich die Wahlperiode noch mit? Trete ich wieder als SPD-Abgeordneter an? Irgendwann überwiegte das Gefühl, dass ich mich nicht mehr verbiegen darf und meine Ideale und Karriere nicht über die Partei stellen kann. 

Ihr Bundestagsmandat wollen Sie dennoch behalten, obwohl Sie als Politiker der SPD in den Bundestag gewählt wurden.

Beim Wahlkreismandat schickt einen die Basis, der Wahlkreis hat mich gewählt (Bülow hat 2017 im Wahlkreis Dortmund I das Direktmandat gewonnen, Anm. d. Red.). Nur der Wahlkreis kann dieses auch zurückfordern. Ich habe am Montag vor meiner Austrittserklärung daher alle in meinem Wahlkreis zu einem Gespräch eingeladen, zu dem auch viele gekommen sind. Die einhellige Meinung: Ich soll mein Mandat behalten. Das haben viele Wählerinnen und Wähler auch in E-Mails an mich bekräftigt. Und für diese Menschen, für meinen Wahlkreis, bin ich im Bundestag. Dieses Mandat gehört ihnen und nicht einer Partei oder Struktur ...

Manche Mitglieder in der Bundes-SPD sollten überlegen, ihr Mandat abzugeben

... Ihr Ortsverein Dortmund-Mitte schreibt aber auf Facebook, dass er von Ihnen nicht informiert wurden sei.

Das stimmt einfach nicht. Ich habe am Montag, vor meiner Austrittserklärung, eine Einladung zu einer Konferenz verschickt, mit dem dringlichen Hinweis einer Aussprache. Diese Einladung hat auch der Ortsverein bekommen. Darüber hinaus habe ich meine Erklärung als erstes an den gesamten Wahlkreis verschickt. Der Vorwurf ist daher lächerlich. Alle in der Partei wussten Bescheid. 

Ich finde, dass sich manche Mitglieder in der Bundes-SPD überlegen sollten, ihr Mandat abzugeben. Jene, die versprochen haben, dass es keine Große Koalition geben wird. Ich habe diesen Menschen leider geglaubt und es auch versprochen. Für meinen Teil kann ich sagen: Ich bleibe Sozialdemokrat und will meine Versprechen halten. Ob das auch andere in der Partei tun wollen und werden - daran habe ich erhebliche Zweifel. 

Wen meinen Sie konkret?

Im Endeffekt haben fast alle im Wahlkampf gesagt, dass es keine Große Koalition mit der SPD geben werde. Viele andere Versprechen wurden auch nicht eingelöst.

Aber wer soll das zu verantworten haben?  

Es geht nicht um Namen - eine ganze Reihe in der SPD gehört dazu. Ich appelliere, dass sich jeder in der Bundes-SPD fragt: Will ich die Wählerinnen und Wähler weiterhin für dumm verkaufen? Ich will das nicht. Und daher habe ich Konsequenzen gezogen. 

Das ist eine Forderung, die ganz sicher nicht der Generalsekretär stellen kann

Der Aufforderung von SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, Ihr Bundestagmandat "konsequent" abzugeben, wollen Sie also nicht nachkommen?

Nein. Das ist eine Forderung, die nur der Wahlkreis oder die Basis stellen kann. Aber ganz sicher nicht der Generalsekretär. Mir wurde das Bundestagsmandat nicht von der Parteispitze verliehen, sondern vor allem von der Basis und den Wählerinnen und Wählern. Nicht zuletzt, weil ich viel gegeben habe: Ich habe unermüdlich Wahlkampf geführt, ich habe Prozente gewonnen und ich habe mich immer leidenschaftlich für die Sozialdemokratie eingesetzt.

In Ihrer Erklärung erwecken Sie den Eindruck, Sie hätten von der SPD kaum etwas zurückbekommen. Sie schildern etwa, dass Sie sich viele Jahre "aufgerieben" und gegen Dinge "angekämpft" hätten. An einer Stelle schreiben Sie, Kritik würde "unterdrückt oder ignoriert" werden. Wie soll man sich das vorstellen?

Erstmal: Ich habe von der SPD viel zurückbekommen, sonst wäre ich nicht all die Jahre in der SPD gewesen (Bülow ist seit 26 Jahren SPD-Mitglied und seit 16 Jahren im Bundestag, Anm. d. Red.). Meine Motivation war dabei immer die Parteibasis - das macht mir den Austritt besonders schwer. Ich weiß, dass ich einige mit meinem Rückzug enttäusche. 

Aber die Bundestagsfraktion und die Bundes-SPD hat immer mehr einen Kurs eingeschlagen, den ich nicht mehr teilen konnte. An den Strukturen der Partei hat sich seit Jahren nichts verändert. Es werden immer nur Geschlossenheit und ein "Weiter so" beschworen. Dadurch haben die Fraktion und die Partei an Vielfalt verloren. Ich habe oftmals Minderheitsmeinungen in der Fraktion vertreten - die heute, im Gegensatz zu früher, nicht mehr angehört oder unterstützt werden. Das Gefühl, dass ich etwas bewirken kann, habe ich schon lange nicht mehr. Die SPD vertritt mittlerweile stromlinienförmig Positionen, es werden kaum noch kritische Meinungen angehört oder breite Debatten über Themenfelder geführt. Ich hatte das Gefühl, dass ich gegen Windmühlen ankämpfe.

Es werden Redner bevorzugt, die Positionen der Partei und Regierung stützen

Ihre letzte Rede im Bundestag haben Sie am 29. April 2016 gehalten. Warum?

Weil es immer schwerer wurde, in einer Rede meine Fraktion und die Regierung zu unterstützen. Ich hätte bei der Haushaltsdebatte reden können, aber ich wollte es nicht - weil ich die Position nicht vertreten konnte. Das kann ja nicht sein.

Warum kann das nicht sein? Sie hätten Ihre Meinung, auch wenn Sie nicht alle teilen, einfach sagen können.

Das wird nicht zugelassen in der Fraktion. In der SPD ist es einfach nicht möglich, Meinungen zu vertreten, die sich gegen die Linie der eigenen Partei stellen. Und was macht man dann? Sich intern bemühen? Das Reden einfach lassen? Allein dass ich mir darüber Gedanken gemacht habe, macht deutlich, warum ich mich zurückziehen musste. 

Wer soll denn entschieden haben, dass Sie Ihre Meinung nicht sagen können? Wurde Ihnen das Reden verboten?

Nein, nicht direkt. Man redet zunächst im fachpolitischen Bereich über Themen. In den Ausschüssen wird dann geklärt, wer zu einem Thema vor dem Bundestag redet. Natürlich werden dann die Redner bevorzugt, die Positionen der Partei und Regierung unterstützen. Wer das letztendlich entscheidet, ist die Geschäftsführung der Fraktion. Aber wie gesagt: Am Anfang wird in den fachpolitischen Bereichen gewissermaßen vorsortiert, wer reden soll. 

Die SPD will sich erneuern, will sich mit der Reform von Hartz IV und einer Art Grundeinkommensjahr als Partei links der Mitte neu erfinden. Sie wollen auch eine Erneuerung, fordern einen deutlicheren Linkskurs. Und nun treten Sie aus. Schwächen Sie damit nicht den linken Flügel der SPD, der gerade jetzt Mitstreiter gebrauchen könnte?

Das sehe ich nicht so, da es einen linken Flügel in der SPD kaum noch gibt. Wenn es diesen geben würde, dann hätte er nach den zwei desaströsen Landtagswahlen eine Urwahl über den Parteivorsitz durchgesetzt. Stattdessen veranstaltet die SPD ein fancy Debattencamp. Von einer Erneuerung kann da nicht die Rede sein. Zumal: Wenn es um die Themen Hartz IV und Mindestlohn geht, wird kurz links geblinkt - und es verändert sich gar nichts. Es wird einfach nur geredet.

Die SPD war immer am stärksten, wenn sie lebendig war, gestritten hat, sich in die Wolle gekriegt hat. Und abschließend einen klaren Kurs beschlossen hat. Das passiert mittlerweile nicht mehr. Es wird nicht gestritten, sondern sich untergehakt und dabei schamvoll gelächelt. Alle in der SPD wissen, dass es in der Partei nicht gut läuft. Aber niemand will das zugeben. Es sind immer andere Schuld, ob die CDU oder die Wählerinnen und Wähler. Wir fahren seit 15 Jahren einen Kurs, der die Hälfte unserer Wählerschaft dezimiert hat. Wann wird dafür endlich Verantwortung übernommen?

Eine Lösung, in Ihren Augen, wäre also: Mehr Streit und ein personeller Umbruch?

Eine breite Debatte führen und die Parteiführung muss für das Versagen Verantwortung übernehmen. Darüber hinaus muss es inhaltliche und strukturelle Veränderung geben. Ich sehe derzeit niemanden in der Partei, der das einfordert. Wenn ich diese Chance sehen würde, wäre ich nicht ausgetreten. Es muss etwas passieren. Das sehe ich einfach nicht mehr.

Würden Sie wieder in die SPD eintreten, wenn Sie diese "Chance" sehen würden?

Das schließe ich nicht aus, aber zurzeit sehe ich diese Möglichkeit nicht. Ich habe die Hoffnung verloren. Aber wenn sich das irgendwann ändern sollte, was ich mir wünsche: Klar. Ich habe die SPD ja nicht ohne Grund als meine politische Heimat gewählt.

Die Kritik, die ich aktuell erfahre, kann nur Verleumdung sein

Sie seien "kein Verlust", sondern eine "ewige Ich-AG", Ihre Erklärung sei "Selbstmitleid pur" und Sie hätten mit der SPD "noch nienix was zu tun gehabt", schreiben SPD-Bundestagsabgeordnete auf Twitter über Ihren Austritt. Ihre Reaktion?

Das ist einfach nur noch lächerlich. Auf diese Leute braucht man nicht groß reagieren. Diese Leute, die mich persönlich angreifen, sollten sich überlegen, wie viel Sozialdemokrat sie noch sind. Ich gewinne doch nicht meine Wahlkreise so deutlich vor der Bundespartei, wenn ich mich vor Ort nicht engagieren würde. Das habe ich auch inhaltlich immer getan. Ich habe etliche Vorschläge zur Parteierneuerung gemacht, zur Sozialwende und nicht zuletzt im Umweltausschuss - der mir weggenommen wurde, weil ich ein GroKo-Gegner war. Die Kritik, die ich aktuell erfahre, kann nur Verleumdung sein. Das ist alles unter der Gürtellinie und auf meine Person bezogen, nicht auf meine Inhalte. Ich habe in meiner Erklärung keine Person kritisiert, sondern das System. Eine inhaltliche Debatte wäre wünschenswert. 

Sie sind Mitbegründer der "Progressiven Sozialen Plattform" und Mitunterzeichner von Sahra Wagenknechts "Aufstehen"-Bewegung. Auch Ihre Positionen legt nahe, dass Sie bei der Linken eine neue "politische Heimat" finden könnten - und vielleicht auch wollen.

Pläne habe ich erstmal keine. Ich muss jetzt das Kapitel SPD abschließen. Mir geht es nicht darum, mich in ein anderes, gemachtes Nest zu legen und einfach weiterzumachen. Im Endeffekt ist gerade alles möglich - auch, dass ich mein Mandat für den Bundestag als Fraktionsloser bis zum Ende der Wahlperiode behalte und dann schaue, wie es weitergeht. Was ich aber definitiv weiter machen werde, ist mich weiter für die "Progressive Soziale Plattform" und "Aufstehen" zu engagieren. Was meine zukünftige politische Heimat sein wird, oder ob mir mein Engagement in der Bewegung reicht, werde ich dann sehen.

Haben Sie schon Gespräche mit anderen Parteien geführt?

Es sind schon vor meinem Austritt aus der SPD viele Abgeordnete auf mich zugekommen, die mir sagten: Du passt nicht mehr zur SPD. Konkret wurden mir von der Partei, der ÖDP (Ökologisch-Demokratische Partei, Anm. d. Red.), der Grünen und der Linken ein Wechsel nahegelegt. Aber, wie gesagt: Ich will erst einmal das Kapitel SPD abschließen. Dass ich in Gesprächen mit Abgeordneten anderer Parteien bin, gehört aber auch einfach dazu. Das habe ich schon immer gemacht. Als Politiker sollte man nicht nur auf die eigene Partei fixiert sein. Der Austausch hat mir schon immer geholfen und tut es immer noch. Viele in der SPD haben das nicht so gesehen. Das fand ich schon immer bedenklich, dass immer alle anderen Positionen abgelehnt wurden - und nur die SPD-Linie zählte.   

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