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The 1975: Eine Band wie eine Elster

Foto: Magdalena Wosinska

Pop-Phänomen The 1975 "Ich bin ein verfickter Künstler, ich stelle Fragen"

Sie sind die Band der Generation Social Media: The 1975. Dabei sieht Frontmann Matthew Healy das Netz mehr als kritisch. Oder ist das nur eine Pose?

Matthew Healy ist umgezogen. Er wohnt nun im Norden Londons, in einem dieser Stadtteile, in denen sich die Straßen in großzügigen Bögen über Hügel schlängeln. Wo die Häuser nicht in Reih und Glied stehen, wie sonst in den britischen Suburbs, sondern architektonische Extravaganzen betonen. Das Haus von Healy ist ein strenger, fensterloser Holzkasten hinter einem ebenso strengen Holzzaun.

Hinter ihm ist alles Beton. Betonwände. Betonboden. Der Innenhof? Grau gekieselt. Der Baum, der zwischen den Steinen steht, wirft seine bunten Blätter ab, als wolle er Rücksicht nehmen auf die Baustoffe. In Healys Esszimmer steht ein grober Holztisch, dazu zwei Stühle.

4,3 Millionen Exemplare verkaufte Healys Band The 1975 von den zwei bisher erschienenen Alben. Beide Platten erreichten weltweit Spitzenpositionen in den Charts. Dazu kommen ungefähr eine Million verkaufte Konzerttickets. The 1975 ist eine der erfolgreichsten Pop-Bands der Stunde.

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The 1975: Eine Band wie eine Elster

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Jetzt erscheint Album Nummer drei, es trägt den Titel "A Brief Inquiry Into Online Relationships". Healy und seine Kollegen George Daniel (Schlagzeug), Adam Hann (E-Gitarre) und Ross MacDonald (Bass) unternehmen darauf einen Spaziergang durch alle möglichen Genres. In einigen Songs meint man im Hintergrund noch den Emo-Rock zu erkennen, der die Band in den frühen Nullerjahren schulte. Dazu kommen aber auch recht harsch anmutende Autotune-Übungen, Boyband-Pop, R&B- Skizzen, Akustik-Balladen und ein von einem Roboter gesprochenes Spoken-Word-Interlude.

"Like context in a modern debate I took it out", singt Healy einmal, und das erklärt das Album ziemlich gut. Es passiert viel darauf, und man erkennt nicht immer, warum. Manches davon wirkt irre interessant, anderes sehr langweilig. "Eine The-1975-Platte ist wie eine Elster. Eine Elster sammelt Glas, Diamanten, Fetzen von Plastikfolie ein - wichtig ist ihr nur, dass alles glänzt", sagt Healy.

Das Internet, unser Heroin

Wer mit dem 29-Jährigen in der teuren Leere seines Esszimmers sitzt, erkennt aber schnell: Das Glitzern der Oberflächen ist Healy gar nicht so wichtig. Es geht ihm um das große Ganze. Um uns und um die, die uns zu dem machen, was wir sind: Um das Silicon Valley mit seinen Entscheidungsträgern. Um Facebook, Twitter, Wikipedia. Um den "Gelesen"-Haken hinter iMessages, soziale Ängste beim Austausch eines Profilbilds. Um Filterblasen, um Gut, um Böse, um das Kuratieren des eigenen Images.

In atemberaubendem Tempo diktiert Healy einem seine Sicht zu all diesen Dingen, er feuert seine Thesen ab wie eine Ballmaschine Tennisbälle, manches erscheint obskur, das meiste jedoch erhellend. "Wenn uns jemand vor 15 Jahren erzählt hätte, dass unsere gesamte Kommunikation bald über das Netz stattfinden würde, hätten wir das doch ein klein bisschen beunruhigend gefunden, oder?", fragt er. Nach einer Pause fügt er an: "Ich war heroinabhängig. Ich kann dir eines versichern: Das Verhalten, das wir an den Tag legen, wenn es um das Internet und alles damit Verwandte geht, ist das eines Heroinabhängigen."

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Die Ästhetik des Netzes macht er sich dennoch zu eigen. Vor Kurzem veröffentlichten The 1975 ein Video zu dem Song "Love It If We Made It". Darin sieht man Filmausschnitte und Fotografien, vor allem solche, die man als schlimm oder traurig begreifen kann: den 2015 ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi, einen Soldatenfriedhof, den 2017 an einer Überdosis verstorbenen Rapper Lil Peep. Was das soll? Healy lacht jetzt kurz.

"Ich habe keine Antworten. Es ist auch nicht mein Job. Ich bin ein verfickter Künstler. Ich stelle Fragen!" Das kann man Understatement oder Koketterie nennen, denn zu den großen Themen der Zeit, zu Migrationspolitik, zum Klimawandel, zum Rechtspopulismus, bezieht Healy regelmäßig und gerne Stellung.

Seine Heroinsucht hat er im vergangenen Jahr überwunden. Er spricht darüber, aber jetzt nicht mehr als Ballmaschine, sondern zögerlich. Beginnt Sätze, zieht sie dann wieder zurück, so wie man ein Zuviel an Zahnpasta wieder in der Tube verschwinden lassen kann. Was er im Raum lässt, ist ein knappes "Ich hasse Heroin. Ich hasse den Pete-Doherty-Scheiß, den William-S.-Burroughs-Scheiß. Aber das ist Teil meiner Geschichte."

Im Wohnzimmer sitzt Mark Knopfler

Später fügt er an: "Es ist kein Platz mehr für Fuck-ups." Das kann man auf seine eigene Vergangenheit beziehen, aber auch auf Rock'n'Roll an sich. Das Modell Rockstar, sagt Healy, sei überholt, schon wegen der Misogynie, die damit so oft einherginge. Musikalisch ohnehin. "Ich liebe die Form. Die Silhouette. Ein Leadsinger, Gitarren, Vier Jungs. Das ist großartig! Ich lehne nur den ganzen Akkordscheiß ab. Lass uns aussehen wie eine Rockband - aber klingen wie Whitney Houston!"

Healy selbst klingt trotz aller Pose reflektiert. Es scheint, als würde er ständig mit sich selbst verhandeln, ein Gleichgewicht suchen zwischen Privatperson und Frontmann. Er will seine Rolle verstehen. Das mag daran liegen, dass er in einem Prominentenhaushalt aufwuchs; seine Eltern sind die in Großbritannien sehr bekannten Schauspieler Denise Welch und Tim Healy. Manchmal kam Mark Knopfler zuhause in Newcastle vorbei und griff zur Gitarre, ab und zu auch Brian Johnson von AC/DC.

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15 Jahre später ist er selbst der Sänger einer der größten Bands der Welt. Manchmal, so erzählt er, bekomme er SMS von Mick Jagger. Die Rolling Stones nahmen The 1975 noch vor der Veröffentlichung ihres Debüts mit auf Tour. "Das Publikum fand uns fürchterlich", sagt Healy. "Die Leute haben uns nicht geglaubt, was ich ihnen gar nicht übelnehmen kann. Aber ich sah, dass Mick am Rand der Bühne stand und tanzte. Da habe ich ins Publikum geschaut und mir gedacht: Ich supporte hier mit meiner Band die Stones. Ihr nicht. Ab da hat es funktioniert."

Das nächste Album seiner Band soll schon im Frühjahr erscheinen. Matthew Healy hat noch viel zu sagen.

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