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Deutschland Gedenken in Buchenwald

„Die Geschichtsfälscher streben letztendlich einen anderen Staat an“

Stephan Kramer bei seiner Rede in der Gedenkstätte Buchenwald Stephan Kramer bei seiner Rede in der Gedenkstätte Buchenwald
Stephan Kramer bei seiner Rede in der Gedenkstätte Buchenwald
Quelle: dpa/Bodo Schackow
Bei der Erinnerung an die Pogrome vor 80 Jahren in der Gedenkstätte Buchenwald warnt der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes vor Geschichtsrevisionismus. Seine Kritik zielt auf die AfD – deren Beobachtung von seiner Behörde geprüft wird.

Stephan Kramer hat im Juli 2007 schon einmal auf dem Ettersberg gesprochen. Die Gründung des Konzentrationslagers Buchenwald auf einem Höhenzug bei Weimar lag damals 70 Jahre zurück. Damals sprach Kramer als Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland zu den Gästen und versprach, „dass wir, die junge Generation, den Staffelstab der Erinnerung übernehmen und unserer Verantwortung gerecht werden“.

Elf Jahre später, am 9. November 2018, steht Kramer wieder auf dem mit Kies und Schotter ausgelegten Gelände vor einem Mikrofon. Doch heute ist manches anders. Kramer spricht in einer doppelten Rolle. Zum einen als „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Und zum anderen als Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz. In das Amt hat ihn vor drei Jahren Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) berufen, der gerade neben ihm steht.

Ein Geheimdienstchef bei einer Veranstaltung, bei der an die Inhaftierung und Ermordung der Juden gedacht wird, die nach den Novemberpogromen 1938 nach Buchenwald verschleppt wurden? Der Leiter der Gedenkstätte, Volkhard Knigge, begrüßt Kramer und Ramelow als „Repräsentanten des toleranten, demokratischen Verfassungsstaates“. An den Chef des Geheimdienstes richtet der Psychoanalytiker und Historiker Knigge die Worte: „Wir schauen heute nicht nur zurück. Wir blicken auch in die Gegenwart und Zukunft. Wir brauchen Institutionen, die auch dann, wenn sie für Sicherheit zuständig sind, mit demokratischer Haltung die unantastbare Würde des Menschen gegen antidemokratische Gruppen verteidigen.“

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Diese einleitenden Worte deuten darauf hin, dass in der Gedenkstätte Buchenwald heute mehr geplant ist, als ein historischer Rückblick, ein paar Kranzniederlegungen und ein paar salbungsvolle Reden. „Ich stehe hier in einer Zeit, in der Nazis nicht nur auf den Straßen marschieren sondern die ‚Neue Rechte‘ in vielen Landesparlamenten und im Bundestag sitzt“ sagt Kramer gleich zu Beginn. Ganz Europa habe einen „beispiellosen Rechtsruck“ erlebt. Und das Gedenken an die Opfer und die Mahnung an die Nachgeborenen, das er 2007 noch versprochen hat, werde inzwischen „immer unverschämter in Frage gestellt“, etwa, wenn eine erinnerungspolitische Kehrtwende um 180 Grad verlangt werde oder wenn die NS-Zeit als „Vogelschiss“ bezeichnet wird.

Die Zitate, die Kramer hier aufspießt und der Gedenkgemeinde auf dem Ettersberg als Beleg für politische Verlotterung hinhält, stammen von den AfD-Politikern Björn Höcke und Alexander Gauland. Der Thüringer AfD-Chef Höcke wurde gerade von seinem Landesverband zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl in einem Jahr gekürt. In der Gedenkstätte Buchenwald hat er Eintrittsverbot, seit er seine „Schlusstrich“-Forderung in die Welt gesetzt hat.

Kramers Verfassungsschutz prüft seit einigen Monaten, ob die Thüringer AfD künftig beobachtet werden soll. Die Gedenkstätte Buchenwald ist am 9. November 2018 nicht nur ein Ort der Erinnerung. Hier werden auch ganz aktuell scharfe politische Grenzen gezogen. Die haben allerdings sehr viel mit historischem Bewusstsein und Erinnerungskultur zu tun.

Denn der Geschichtsrevisionismus, davon ist Kramer überzeugt, hat Konjunktur, seine Vertreter fühlten sich in jüngster Zeit „bestätigt und bestärkt“. In der Bundesrepublik sei ein Spektrum „des Schönredens, der Selbstgerechtigkeit und der Scheinheiligkeit“ entstanden, ein „toxisches Gemisch, das unsere Gesellschaft vergiften will“.

Deshalb sei es „unerlässlich an diesem Tag und an diesem Ort ohne Wenn und Aber zu sagen: Das Gedenken an Opfer des NS-Regimes ist und bleibt ein existentieller Bestandteil unseres demokratischen Selbstverständnisses in unserer freien Gesellschaft“. Erinnerungsarbeit sei keine „Belastung oder Hypothek“ sondern „ein innerer Kompass zur Verteidigung der Menschenwürde“. Die „No-Go-Zone“ einer Demokratie beginne nicht erst bei einer „voll ausgewachsenen Diktatur“. Sie fange dort an, „wo der Respekt – nicht bloße Toleranz – vor dem Mitmenschen aufhört.“

Was den rechtspopulistischen und rechtsextremen Verweigerer des Gedenkens nicht ins Konzept passe, „machen sie lächerlich, überziehen es mit Verachtung, wollen es verbieten“. Was Kramer beschreibt, kennen die Mitarbeiter der Gedenkstätte übrigens aus ihrer täglichen Arbeit. Immer häufiger, berichtet Volkhard Knigge, würden sich  nicht nur Leugner des Holocaust unter die Besuchergruppen in Buchenwald mischen. Inzwischen habe man es auch oft mit „Holocaust-Bekennern“ zu tun: Neonazis, die das ehemalige Lager „inspizieren“ und ganz offen sagen, dass sie das KZ gern wieder in Betrieb nehmen würden. Dann „wäre das Ausländerproblem gelöst“. Um solche Attacken abzuwehren, hat die Gedenkstätte jüngst ihre Besucherordnung verändert. Mitunter ruft Knigge auch die Polizei.

Wie eine Kriegserklärung an die Feinde der liberalen Demokratie

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Die deutsche Geschichte scheint an diesem Nachmittag auf dem Ettersberg nicht besonders bewältigt. Im Gegenteil. „Die Geschichtsfälscher und die Verschweiger streben letztendlich einen anderen Staat an“ warnt Kramer. Der brennende Wunsch, die NS-Zeit zu vergessen oder ihr positive Seiten abzugewinnen, gehe „Hand in Hand mit einem Hang zur Gewalt“.

Das Goethehaus von Weimar liegt vom ehemaligen KZ Buchenwald nur etwa elf Kilometer entfernt. Elf Kilometer, die vor 80 Jahren Hochkultur und Horror voneinander trennten. Und heute? Kramer nennt ein paar Zahlen: Achtzig Prozent der Thüringer halten die Demokratie für die beste Staatsform, 20 Prozent hätten eine „Affinität zu rechtsextremen Einstellungen“, acht Prozent seien in „nationalsozialistischem Gedankengut verfangen“.

Die halbstündige Rede des Thüringer Verfassungsschutzpräsidenten auf dem Ettersberg klingt wie eine Kriegserklärung an die Feinde der liberalen Demokratie – und genauso war sie auch gemeint. Aber die Bundesrepublik ist nicht die Weimarer Republik, auch wenn das Städtchen, das der ersten, gescheiterten deutschen Demokratie seinen Namen gab, gleich unten im Ilmtal liegt und die AfD in Thüringen nach jüngsten Umfragen fast gleichauf mit der CDU.

Das weiß auch Kramer. Er beendet seinen Vortrag deshalb mit einem Zitat von Willy Brandt: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an“. Vermutlich muss man immer wieder richtig mit der Demokratie anfangen, gerade dann, wenn sie in die Jahre kommt. Weimar ist für eine solche Übung kein schlechter Ausgangspunkt.

Gedenken an anti-jüdische Pogrome - "Die Schutzmänner grinsten nur"

Margit Siebner war am 9. November 1938 ein zehnjähriges Mädchen. Die Tochter eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen Mutter erlebte die Novemberpogrome vor 80 Jahren in Berlin mit - und schaut mir Sorge auf die Gegenwart.

Quelle: Reuters

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