Die Redensart „Das gibt‘s in keinem Russenfilm“ bezog sich vor der Perestroika auf Ereignisse, die noch unfassbarer erschienen als das Sowjetkino mit seinen verlogenen Heldensagen. „Leto“ ist kein Märchen. Kirill Serebrennikow, der Regisseur, hat „Leto“ unter Hausarrest vollendet. Im August 2017 hatten die Behörden ihm unter dem Vorwurf, er habe als künstlerischer Leiter des Moskauer Gogol-Centers Staatsgelder veruntreut, bis aus Weiteres verboten, seine Wohnung zu verlassen. Wladimir Putin sprach persönlich eine Warnung an die Künstler seines Reiches aus.
„Leto“ heißt Sommer. „Leto“ heißt ein Lied von Mike Naumenko und der Rockband Zoopark: „Sommer!/ Ich hab mir eine Zeitung gekauft/ Jetzt hab ich eine Zeitung/ Aber kein Bier.“ So fängt es an in irgendeinem Sommer in den frühen Achtzigern am Vorabend der Perestroika und am Ostseestrand vor Leningrad. Naumenko stimmt sein Lied an, die verlorene Jugend tanzt im Sand und badet nackt, säuft Weißwein aus Moldawien und raucht Belomorkanal. Es könnten auch die Danziger Dünen sein, der Prager Moldaustrand oder die Insel Hiddensee. Autokratien stehen vor dem Untergang, wenn sich die Jugend ihrem Staat, der sie bevormundet, nicht mehr verpflichtet fühlt, und sich auf seine Kosten von ihm frei macht. Was man braucht, ist billig. Wie man leben will, so lebt man. Jeder macht was mit Musik und Kunst.
„Leto“ lässt sich als Biopic betrachten. Alles dreht sich um den Songschreiber und Sänger Victor Zoi und seine Gruppe Kino, die Anfang der Achtzigerjahre mehr waren als fünf Jahre zu spät gekommene Ostpunks. Victor Zoi war ein Poet, der zwar auch Zeilen wie „Meine Laune hängt ab von der Zahl der getrunkenen Biere“ singen konnte, aber dann auch wieder nachdenkliche Zeilen wie „Ich pflanze Gurken aus Aluminium in ein Feld aus Plastik“. Er verwandelte die Generation X des Westens in die Generation 0 des Ostens – wobei null nicht nichts war, sondern alles Neue. Alles, was noch kommen würde.
Allerdings war auch der Staat noch da, als Victor Zoi in Leningrad die Sowjetjugend auf das Neue einschwor, das weit mehr sein sollte als New Wave. In „Leto“ zeigt sich jener Staat im „Rockklub“ in Gestalt des Ordners, der, wenn sich die Zuschauer erheben oder Mädchen ein gemaltes Herz hochhalten, ruft: „Das ist verboten!“ „Wieso?“ „Ist verboten.“ Oder wenn sich eine Kommission über das Lied „Ich bin ein Nichtsnutz“ beugt und die Genossin Vorsitzende sagt: „Sowjetische Rockmusiker müssen das Gute im Menschen finden und eine aktive soziale Rolle spielen.“ Woran sie selbst nicht mehr glaubt. Oder wenn sich die Sicherheitsorgane zeigen und der Punk brüllt: „Los, Genossen Komsomolzen, bringt mich um, ich bin ein Punk!“ Oder wenn einer reimt: „Der Winter geht, der Sommer kommt herbei, wir danken der Partei.“
„Leto“ ist auch ein Film über Musik, die mehr bedeutet als alle politischen Systeme. Aber so kann man ihn nicht mehr sehen. Kirill Serebrennikow hat ihn in kunstvollem Schwarz-Weiß gedreht als Bilderreigen seiner eigenen Jugend zwischen dem sowjetischen Verfall und einem letzten Aufbruch, für den Michail Gorbatschow dann nur noch einen Namen brauchte. Glasnost oder eben Perestroika. „Leto“ trägt den Untertitel „Rock, Love, Perestroika“. Serebrennikow hat lustige Videos in seinen Film geschnitten und mit Comics übermalt: Russland singt „Psychokiller“ von den Talking Heads und „Passenger“ von Iggy Pop, „All the Young Dudes“ von David Bowie und „Perfect Day“ von Lou Reed.
Schon vor dem Hausarrest, der das Verbot einschließt, sich öffentlich zu äußern, formulierte Serebrennikow die Botschaft seines Films. Es gehe immer auch um die rebellische Generation davor: „Die Perestroika hat die Generation vollständig ausgelöscht und sie zu Straßenkehrern und Hausmeistern gemacht, und bald wird nichts mehr von ihr übrig sein.“ Und es geht immer auch um die Generationen danach: „Mein Ziel ist es, einen Film über Menschen zu machen, die glücklich sind und absolute künstlerische Freiheit genießen, trotz der Unterdrückung durch die Regierung. Hier im Gogol-Center sind uns ihre Methoden nicht fremd.“ So muss man „Leto“ sehen. Absolute Freiheit gibt‘s in keinem Russenfilm.