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Fernreisen Mexiko

Verschwitzt durch Acapulco

Vor langer Zeit war Andreas Altmann im edlen mexikanischen Badeort Acapulco. Dann kamen die Kartelle, jetzt ist der Autor zurückgekehrt. Die Stadt leuchtet, nirgends ein Schatten.
Alte Zeiten. Anfang der Fünfziger waren Wasserski hochmodern. Acapulco bot beste Voraussetzungen Alte Zeiten. Anfang der Fünfziger waren Wasserski hochmodern. Acapulco bot beste Voraussetzungen
Alte Zeiten. Anfang der Fünfziger waren Wasserski hochmodern. Acapulco bot beste Voraussetzungen
Quelle: Getty Images

Mit Acapulco verbindet mich eine alte Geschichte, an die ich voll Melancholie denke. Vor knapp 30 Jahren war ich schon einmal hier. Um eine Reportage über diesen Ort zu schreiben. Der eine märchenhafte Vergangenheit hat, ganz im Gegensatz zu Cancún.

Zwischen den ersten Steinzeitindigenen bis zu den ersten Spaniern vergingen fast fünf Jahrtausende. 1531 „entdeckte“ Konquistador Hernán Cortés die Bucht am Pazifik, und eine legendäre Hafenstadt entstand. Handel mit Asien und Europa. Silber, Seide und Elfenbein, Arbeitstiere und Menschensklaven, nichts fehlte. Viele Raubritter kamen und stahlen mit, auch Freibeuter Francis Drake.

„Aca“ überstand jeden und alles, selbst Erdbeben und Cholera. Nach der Gründung der Republik Mexiko, 1824, waren – endgültig – der Schrecken und die Glorie der spanischen Herrschaft vorbei. Die Mexikaner nahmen ihr Land in Besitz. Die umtriebige Stadt versumpfte, der Dschungel kam zurück, unbemerkt von der Welt döste sie vor sich hin.

Hundert Jahre später wurde das Nest wiederbelebt: Am 12. November 1927, ziemlich genau um sechs Uhr abends, als das erste Auto die Stadtgrenze überfuhr. Cortés’ Eselspfad war verbreitert worden, jetzt gab es eine Straße zwischen Acapulco und Mexico City.

Wichtige und Wichtigtuer

Noch stank das Kaff, hatte weder Strom noch Kanalisation, dafür eine halbe Milliarde Moskitos. Der Rest verführte zum Träumen: die Meeresbucht, der endlose Sand, die sanft nach oben ziehenden Hügel dahinter, das blaue Wasser und der blaue Himmel. Was für ein Beweis für die Schönheit der Erde. Giganten ziehen ein. Der sagenumwobene B. Traven verfasst hier seinen „-Schatz der Sierra Madre“. Malcolm Lowry und Tennessee Williams folgen. Produktive Alkoholiker produzieren Weltliteratur. Milliardär J. Paul Getty kommt auch. Er trinkt nicht, er schreibt nicht, er kauft: seine ersten 900 Morgen Land, drei Cent das Stück. Die Unschuld ist dahin. Aca wird berühmt. Weil berühmte Leute kommen.

Der unvermeidliche Jetset landet an. Wichtigtuer und Wichtige tauchen auf, Cary Grant, Orson Welles, Richard Burton und Elizabeth Taylor, Nat King Cole, John F. Kennedy und Hunderte mehr. Sexbomben – unter anderen Jayne Mansfield, Ursula Andress und Brigitte Bardot – fallen ein. Muskelprotze (der Strand als Bühne!) drängeln, darunter Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone, die nebenbei als ergreifend talentlose Schauspieler Karriere machen.

Schauspielerin Elizabeth Taylor heiratete in Acapulco 1957 ihren dritten Mann, den Filmproduzenten Mike Todd
Schauspielerin Elizabeth Taylor heiratete in Acapulco 1957 ihren dritten Mann, Filmproduzent Mike Todd
Quelle: Getty Images

Der prominenteste Tote im Ort ist bis auf den heutigen Tag Johnny Weissmuller. Nach Triumphen als schwimmender Olympiasieger und sechster (ebenfalls begnadet unbegabter) Tarzan-Darsteller zimmert er hartnäckig an seinem Abstieg, heiratet fünfmal, zielt als Businessman grundsätzlich daneben, wird irgendwann „greeter“, Grüß-Gott-Onkel im „Caesar’s Palace“ in Las Vegas, und entwickelt sich schon vor dem Rentenalter zum gesundheitlichen Wrack: Hüftbruch, Schlaganfälle, Alkohol, ein Zwischenstopp in einem Altersheim.

Die letzten Jahre verbringt er in Acapulco. Uferlose Abfindungen an vier Ex-Gattinnen bringen ihn um den Verstand und den Rest seines Geldes. Zuletzt verliert er seine Stimme, nur der von ihm kreierte Urwaldschrei – so will es die Legende – bleibt ihm. Dass Johnny, der Deutsch-Österreicher, in seiner Kindheit in Chicago an Jodelwettbewerben teilnahm, ist eine wundersam berührende Nachricht.

Intermezzo als Welt-Mordhauptstadt

Gewiss, bereits vor einer Generation – während meines ersten Aufenthalts – trieben sich im berühmten „Seebad“ Acapulco und Umgebung Gangster und Gangsterbosse, Ausbeuter und skandalös Arme, gekaufte Politiker und sonstige zwielichtige Figuren herum, standen in dunklen Ecken „cementeros“, Halbwüchsige, die „cemento“, Klebstoff (im Notfall Farbverdünner), snifften oder „mota“ – der Deckname für Marihuana – inhalierten.

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Das war die gute alte Zeit. Dann kam die Jahrtausendwende, und mit ihr zog – stetig und rasant wachsend – eine Gewalt ein, in deren Verlauf sich Acapulco einmal sogar zur Mord-Welthauptstadt mauserte (stets nah gefolgt von anderen mexikanischen Städten). Heute rangiert sie auf Platz vier oder fünf, so genau weiß das keiner.

Acapulco 2018. In dem brennenden Wagen befinden sich Leichen, die auf diese Art entsorgt werden sollten
Acapulco 2018. In dem brennenden Wagen befinden sich Leichen, die auf diese Art entsorgt werden sollten
Quelle: AFP/Getty Images

Zyniker nennen Guerrero – und damit ist automatisch auch Acapulco gemeint – einen „failed state“, in dem die auf Tod und Blutrache verfeindeten Kartelle ganze Dörfer ausräuchern, wo Kinder als ambulante Tortilla-Verkäufer zugleich den Stoff anbieten, wo „autodefensas“-Gruppen kleine Diebe lynchen, in dem es eine Gegend gibt, die laut offizieller Statistiken als ärmste in Mexiko gilt, in der, hier in der 700.000-Einwohner- Metropole, der schwer bewachte Bürgermeister im letzten Jahr getötet wurde, und in der – während meiner drei kommenden Tage – ein Massaker stattfinden wird, das selbst die hartgesottenen Acapulcaner für Augenblicke schaudern lässt.

Guerrero hält viele Rekorde, nur den des größten – bisher entdeckten – Massengrabs: den nicht. Diese Ehre gebührt dem Bundesstaat Veracruz, dort gruben sie kürzlich 295 verscharrte Leichen aus. Trotzdem, der „normale“ Tourist (der allerdings immer seltener seine Ferien hier verbringt), gehört nicht zur ersten Opfergruppe. Die meiste Gewalt – natürlich existiert nebenbei die übliche Straßenkriminalität – passiert zwischen den ungefähr 50 Drogenbanden, die sich hier gegenseitig in Akkordarbeit – im Kampf um ein möglichst großes Terrain – auszulöschen versuchen.

Starke Momente warten auf mich

Klingt es frivol, wenn ich sage, dass ich starke Momente in Aca erleben werde, die ich nicht missen will? Dass man auch hier Frauen und Männern begegnet, die einen beschenken mit ihrer Großzügigkeit und ihrem Wissen. Zudem sind Erfahrungen – das ist eine kleine, ewige Wahrheit – an gefährlichen Plätzen eindringlicher. Weil man die Tage und Nächte eine Spur riskanter hinter sich bringt.

Beim Shoppen in der Fußgängerzone von Quakenbrück bleibt es stets lauwarm. Was ja inzwischen unserer Lieblingstemperatur im satten Westen entspricht. Schön lauwarm bleiben und viel netflixen, so hört man, stehen zurzeit ganz oben auf der Rangliste der einschlägigen Bemühungen, um einem innigen Leben aus dem Weg zu gehen.

Bootstour vor der Küste
Bootstour vor der Küste
Quelle: Getty Images

Ich fahre mit einem Stadtbus zum Zócalo. Ich schaue gern Männern zu, die einer Frau ihren Sitz anbieten. Auch älteren Damen (somit entfällt jeder Hintergedanke). Diese unscheinbaren Gesten der Ritterlichkeit, auch die gibt es in Mexiko. Manche fragen höflich: „Con permiso?“, ob sie sich neben jemanden setzen dürfen. Rein rhetorisch, aber doch ein Zeichen von Manieren.

Ein Morgen fängt gut an, wenn man Leute entdeckt, die ein Gefühl für Nuancen haben. Hübscher Platz. Die mächtigen Bäume, die vor dem Hitzetod bewahren. Rentner plaudern auf Bänken. Sie lassen sich nicht stören vom Geleier aus der offenen Kirchentür, denn bereits vor dem Mittagessen muss die berühmteste Jungfrau Mexikos Sünden vergeben.

Respekt schont die Zähne

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Ein Denkmal für alle Schuhputzer der Welt steht da. In beiden Händen hält die Figur den so wichtigen Lappen, unabdingbar für die Feinpolitur. Wer sich konzentriert, hört das typisch schnalzende Geräusch dieser Kunstfertigkeit. Ich bin kindisch und berühre die Bronzenase. Das soll Glück bringen. Auf der anderen Straßenseite befindet sich eine imposante Statue. Da kein Name aufklärt, frage ich einen Passanten, wer das sei. „Benito Juárez“, der so verehrte erste Präsident.

Der Fremde und ich kommen ins Gespräch. Flavio hat die erfolgreicheren Tage seines Daseins schon aufgebraucht. Er sieht ein wenig derangiert aus, Hemd und Hose und alles Übrige sind gewiss reparaturbedürftig. Doch der wohl 50-Jährige besitzt Witz, ja, erstaunliches Wissen. Er schenkt mir einen Satz von Juárez: „El respeto al derecho ajeno es la paz y la conservación de los dientes“, der Respekt jedem gegenüber sichert den Frieden und den Erhalt der Zähne. Frei interpretiert, so Flavio, gäbe es – wenn gegenseitige Achtung vorherrschte – keine Raufereien, ergo, keine rausgeflogenen Zähne.

Urlaubsgemütlichkeit 1953
Urlaubsgemütlichkeit 1953
Quelle: Getty Images

Das ist eine wunderbar skurrile Szene, denn Flavio selbst ist zahnlos, bis auf drei einsame Hauer in seiner Mundhöhle. Es wird noch wunderbarer. Flavio senkt die Stimme, jetzt wird es ernst: Juárez wäre nicht der Vater dieses so hippen Gedankens, nein, er hat ihn nur abgekupfert – „von einem deutschen Philosophen! Von Immanuel Kant!“ Sind derlei Überraschungen nicht einen Freudenschrei wert? Mitten im verruchten Acapulco fällt der Name Immanuel Kant, ausgesprochen von einem mexikanischen Penner, der Philosophie liebt.

Die Heiterkeit nimmt kein Ende. Ich frage Flavio, wie er zu seiner Zahnlosigkeit kam. „Diabetes“, so die sofortige Antwort. Und warum spritze er nicht Insulin? „Nie, denn Insulin macht blind.“ Herrliche Durcheinanderwelt. Ich rücke unaufgefordert genügend Pesos für zwei Bier heraus. Solche Gaben müssen belohnt werden.

Rackern für eine Kiste Fische

Ich gehe zum Strand. Kaum Sonnenanbeter. Früher lag hier die halbe Weltbevölkerung. Ich sehe Fischer bei ihrer Arbeit. Das ist gewiss sentimental, aber ich finde „Seeleute“ romantisch. Ich will keiner sein, doch ich will sie bewundern. Wie jetzt: Sie ziehen ihr 350 langes und 90 Meter breites Netz an Land. Sie hatten es vor Stunden u-förmig ausgelegt, mit der offenen Seite hin zum Ufer. Elf Mann mit voller Montur im Wasser.

Zuschauen ist doof. Ich lasse die Stiefel im Sand und ziehe mit. Das ist eine Schweinearbeit und dauert. Ein solches Riesennetz, salzwassernass, hat Gewicht. Man denkt, man holt ein versunkenes Schiff vom Meeresgrund. Und hofft, irgendwann kommt der Walfisch zum Vorschein, der zwischen den Maschen zappelt. Schon kreisen die Pelikane über der mutmaßlichen Beute.

Hotelburgen am Wasser. Mondän kann man das nicht mehr nennen
Hotelburgen am Wasser. Mondän kann man das nicht mehr nennen
Quelle: Getty Images

Von wegen Superfang, ein (!) Zentner handgroßer Fische hat sich verfangen, gerade genug, um eine große Kiste zu füllen. Alle sind bis hinauf zum Nacken nass, aber ihr Anblick hat etwas Männliches, etwas Strotzendes. Die Muskeln glitzern auf der braun gebrannten Haut.

Die Sonne, das Meer, die Freundschaft, die Männerwitze, die vollkommene Unabhängigkeit: Hier kommandieren sie allein. Sie wickeln das Netz auf, laden es in ein Motorboot, und sechs fahren damit hinaus auf den Pazifik. Um es aufs Neue auszulegen.

Ein Joint gegen das alltägliche Grauen

Dreimal, viermal pro 24 Stunden wiederholt sich die Prozedur. Auch nachts wird gearbeitet. Dann schlafen sie vor Ort, unter freiem Himmel. Die anderen bleiben am Strand. Der feine Duft von Marihuana zieht vorbei. Sie brauchen das, sagen sie, „para relajar“, um zu entspannen.

Sie strecken mir einen Joint entgegen, ich soll mitrauchen. Anzünden, inhalieren, und nun: da sein und still sein. Und irgendwann kommt ein junger Kerl und bietet Stoff – wir sind in Acapulco – an. Ich kaufe für uns alle und revanchiere mich für ihre Großzügigkeit. Es eilt nicht, es wird dauern, bis die Fische in die Falle schwimmen.

Nicht ohne mein Auto. Anfang der Fünfziger parken Gäste-Fahrzeuge vor einem Hotel
Nicht ohne mein Auto. Anfang der Fünfziger parken Gäste-Fahrzeuge vor einem Hotel
Quelle: Getty Images

Neben Leandro liegt eine Tageszeitung, „El Sol de Acapulco“, die Sonne von Acapulco. Auf der Titelseite sieht man das Foto eines schwarzen Müllsacks. Darunter der Hinweis, dass sich darin die Einzelteile eines Menschen befinden. Leandro wirft keinen Blick darauf. Er hat die Augen geschlossen, dem Meer zugewandt.

Vielleicht beamt er sich weg, will gerade nichts wissen von den lokalen Rachefeldzügen. Leandro hat ein schönes Gesicht. Schön, da vollkommen ruhig und gelassen. Als meditierte er, als sei er – oben in seinem Kopf – in einer Welt angekommen, die ihn besänftigt.

Männer schrumpfen, Frauen blühen auf

Auf zur „quebrada“, zur Schlucht. Zuerst per Bus, dann zu Fuß unterwegs. Wieder über 40 Grad, ich merke, wie ich schrumpfe in der Höllenhitze, ja, verdampfe, während andere – vor allem Frauen, bilde ich mir ein – erst richtig zu blühen anfangen. Bemerkenswert.

Irgendwann falle ich in ein Kanalloch, das Straßenarbeiter freundlicherweise nicht abdeckten. Bin wohl mitschuldig, weil ich als Hans-guck-in-die-Luft nicht auf den Boden schaute. Ich wäre durchaus vier Meter tiefer gefallen, wenn ich nicht reflexartig die Arme ausgestreckt hätte, um mich am Rand abzufangen. Ich verspreche, achtsamer mit mir umzugehen.

Glasbodenboote am damals noch wenig zugebauten Strand
Glasbodenboote am damals noch wenig zugebauten Strand
Quelle: Getty Images

Zehn Minuten später knallt drei Schritte neben mir ein Stück Geländer auf den Bürgersteig. Ich springe verschreckt zur Seite und blicke nach oben. Lachende Bauarbeiter winken mir zu, rufen „Perdón, señor“, ein provisorisch montiertes Teil habe sich gelöst. Leicht zitternd gehe ich weiter. Mein Hunger auf Adrenalin ist für diesen Donnerstag gedeckt. Alles wird gut.

Die Felsenspringer haben immer Angst

Ganz nah dem Hotel „Mirador“ liegt die „Schlucht“, ein mächtiger Fels, direkt am Wasser. Für ein lächerliches Eintrittsgeld kann man ein paar Helden zuschauen, den „clavadistas“, den Klippenspringern. Etwa 25 von ihnen gibt es zurzeit in der Stadt, jeweils fünf treten an. Fünfmal pro Tag.

An diesem Nachmittag (ich darf sie hinterher kurz ausfragen) sind Jorge, Rolando, Hugo, Javier an der Reihe. Und – wo findet sich ein treffsicherer Name für einen, der ins Meer taucht: Ulysses. Mindestens ein Jahr lang müssen sie trainieren, einige fangen als 15-Jährige damit an.

3000 Pesos, rund 150 Euro verdienen sie. Für die wenigen Minuten, die sie täglich aktiv sind, ist das – für mexikanische Verhältnisse – ein Traumgehalt. Zudem bewundert man sie, ja, beneidet sie. Und so sieht ihre so sinnliche Mutprobe aus: Sie planschen zuerst im Meer, lachen, strecken sich, amüsieren sich mit der Nonchalance jener, die brennend erwartet werden.

Die Felsenspringer waren und sind eine der Hauptattraktionen von Acapulco
Die Felsenspringer waren und sind eine der Hauptattraktionen von Acapulco
Quelle: Getty Images

Nach einer Viertelstunde klettern sie die Felswand – steil wie eine schiefe Wand – hinauf. Mit Badehose und bloßen Händen. Zwischenstopp vor den beiden Altären, die der Jungfrau gewidmet sind, niederknien, Kreuzzeichen, die Statue anfassen, dann die letzten Schritte zum Gipfel der Klippe. Jetzt tritt der Erste an den äußersten Rand des Felsbrockens, grüßt uns Feiglinge, grüßt in alle Himmelsrichtungen, sammelt sich und segelt endlich – im Vollbesitz seiner Jugend und Schönheit – mit bestechender Eleganz in den 35 (!) Meter tiefer gelegenen Pazifik.

Dann auftauchen, dann der Schrei der Erlösung. Denn Angst, sagen sie, haben sie immer. „Un poco“, ein bisschen. Zehn Minuten später ist der Zauber vorbei, wir Zuschauer klatschen begeistert, die Handys blitzen, jeder will ein Bild mit den Stars. Eine Tüte geht herum, da hinein soll das Trinkgeld.

Schmerbäuche wie Geldsäcke

Ich schleiche durch die Viertel der Reichen. Wie überall liegen sie weiter oben, da ist die Luft nicht kühl, aber kühler. Unglaublich, wie viel Geld es in der Welt gibt. Umso unglaublicher, wenn man bedenkt, dass die Armen nicht weniger werden. Ganz offensichtlich kommt es nie bei ihnen an.

Versteckte Blicke auf die Villen der Geldbesitzer. Tresore hemmungslosen Protzens. Pools, so groß wie römische Freibäder. Die Duschen daneben mit vergoldeten Armaturen. Terrassen aus weiß schimmerndem Carrara-Marmor. Das Bedienstetenvolk poliert Autos, so teuer wie fünf Einfamilienhäuser.

Rudi Carrell urlaubte einst auch an der mexikanischen Küste
Rudi Carrell urlaubte einst auch an der mexikanischen Küste
Quelle: Getty Images

Und zwischen all den Insignien der Maßlosigkeit bewegen sich die schönen und unschönen Inhaber, manche ballonfett, manche mit Wänsten, die aussehen, als horteten sie selbst da noch Säcke voller Dollars. Man verbietet sich die Frage, woher all die Tonnen grüner Scheine stammen. Gewiss nicht aus dem Handel mit Icecream und Sombreros.

Als ich mit dem Bus zurückfahre, schlafe ich dreimal ein. Mein Sitznachbar schläft durch. Hitze als Schlafmittel. Ich sehe Marinesoldaten einsteigen. Sie dürfen nicht einnicken, sie müssen uns bewachen.

Der Frieden auf dem Hoteldach

Bis zum Ende des Tages tut Mexiko gut. Am frühen Abend steige ich auf das Dach meines Hotels, dort gibt es einen kleinen Swimmingpool, vier mal sechs Meter. Niemand da, nur ein schwules Paar, das in einer Ecke schmust. Wie beruhigend, das verspricht nur Gutes.

Ich stehe im Wasser, die Ellbogen am Rand des Bassins aufgestützt, und blicke hinunter auf die Bucht. Der Schweiß ist trocken, ich rauche, weit weg erkenne ich Fischer, die mit ihren Buglampen die Oberfläche ableuchten. Vielleicht sind Leandro und seine Kumpel dabei. Überall gehen jetzt die Lichter an. Acapulco leuchtet, nirgends ein Schatten.

Als ich in mein Zimmer zurückgehe, fällt mir André Breton ein, der französische Schriftsteller und Surrealist, der vor dem Schlafengehen immer einen Zettel an die Tür heftete: „Bitte nicht stören, der Dichter arbeitet.“ Wie erfreulich, als Genie unterwegs zu sein. Noch als Träumender würde man von den Göttern beschenkt. Reporter nicht, die müssen ran an die Wirklichkeit. Hautnah, verschwitzt, nicht selten hechelnd.

Der Text ist ein leicht gekürzter Auszug aus dem neuen Band „In Mexiko – Reise durch ein hitziges Land“ von Andreas Altmann. Erschienen im Verlag Piper, 2018, 288 Seiten, 20 Euro.

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