Kanzlerin beim Bürgerdialog in Chemnitz: „Wer nicht reden will, zu dem kann ich auch nicht gehen“

++ 1770 Polizisten sichern Merkel-Besuch ++

Protestierer in Chemnitz rücken Kanzlerin Merkel in die Nähe des Dritten Reichs

Protestierer in Chemnitz rücken Kanzlerin Merkel in die Nähe des Dritten Reichs

Foto: Sean Gallup / Getty Images
Von: Falk Ester, Klemens Körner (Foto), Igor Pastierovic (Foto), Torsten Pauly, Julia Heinke

Chemnitz – „Lügen-Presse“-Rufe ertönen unter den Anhängern der rechten Szene, die Polizei stellt eine Kiste mit Kleidungsstücken mit strittiger Symbolik sicher, rund 1770 Beamte sind in Chemnitz im Einsatz.

Während sich Kanzlerin Angela Merkel (64) in einem Leserforum in der Hartmannfabrik den Fragen von 120 Chemnitzern stellt, sammelten sich seit 16.45 Uhr Anhänger der rechtspopulistischen Wählervereinigung ProChemnitz in der Nähe des Veranstaltungsortes.

Kanzlerin in ChemnitzDrinnen Bürger-Dialog – Draußen „Merkel muss weg“

Quelle: BILD/Daniel Biskup

82 Tage, nachdem Daniel H. (†35) im August durch mehrere Messerstiche in Chemnitz tödlich verletzt wurde, daraufhin rechte Proteste und fremdenfeindliche Tumulte folgten, besucht die Kanzlerin die sächsische Stadt.

Auf die Frage, was sie den rechten Demonstranten vor der Halle entgegnen würde, äußerte sich die Kanzlerin klar: Sie sei immer bereit, sich Diskussionen zu stellen und auszutauschen. Doch: „Wer nicht reden will, zu dem kann ich auch nicht gehen!“

Anhänger der rechten Szene verteilen Flaggen am Hauptbahnhof

Anhänger der rechten Szene verteilen Flaggen am Hauptbahnhof

Foto: AFP

▶︎ Bereits am Nachmittag hatten sich Anhänger der rechten Szene am Hauptbahnhof versammelt, Flaggen und T-Shirts verteilt – u.a. bewusst missdeutige „Fanshirts“ mit grafischen und inhaltlichen Anleihen aus der Zeit des Hitler-Regimes.

„Eine Kiste mit Kleidungsstücken wurde von uns sichergestellt“, bestätigte eine Polizeisprecherin. „Sie werden jetzt überprüft.“

Vor dem Hauptbahnhof sammelten sich mehrere Menschen in bewusst missdeutig gestalteten Anti-Merkel-T-Shirts

Vor dem Hauptbahnhof sammelten sich mehrere Menschen in bewusst missdeutig gestalteten Anti-Merkel-T-Shirts

Foto: -- / picture-alliance

Gleich zu Beginn des Leserforums kam Merkel auf die Kritik der Chemnitzer Oberbürgermeisterin über den späten Zeitpunkt ihres Besuches zu sprechen.

„Sehr schnell hatte ich nach dem 26. August mit der Oberbürgermeisterin telefoniert, eine Einladung wurde ausgesprochen“, so die Kanzlerin. Sie habe lang überlegt, wann der beste Zeitpunkt wäre zu kommen, da sie vor allem im Wahlkampf bemerkt habe, dass ihr Gesicht „für viele Menschen polarisierend wirkt“.

Merkel sagte, sie habe in der aufgeheizten Stimmung direkt nach den Ereignissen nicht noch weiter zur Polarisierung beitragen wollen. Sie habe aber Chemnitz besuchen wollen, um sich einen „persönlichen Eindruck“ zu verschaffen.

Für Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (56, SPD) kommt der Besuch der Kanzlerin viel zu spät. „Ich hätte es besser gefunden, wenn sich die Bundeskanzlerin unmittelbar nach den Ereignissen vom August ein Bild vor Ort gemacht hätte, im Gespräch mit den Chemnitzern. Auch um Sicherheit zu gewinnen, was tatsächlich passiert ist“, sagte Ludwig in der „Süddeutschen Zeitung“.

Ludwig weiter: „Wir erleben eine Polarisierung auf allen Ebenen der Gesellschaft, in der gesamten Republik. Was in Chemnitz geschehen ist, hat sogar die Bundesregierung vor eine Zerreißprobe gestellt. Ob der heutige Besuch von Angela Merkel mehr als eine Geste und für unsere Stadt eine Unterstützung ist, lässt sich noch nicht sagen.“

„Es waren schwierige und harte Wochen für Barbara Ludwig und die Stadt. Es war immer der Wunsch, dass die Bundeskanzlerin noch mal zum Gespräch kommt. Nun ist es heute geworden, aber für einen Gesprächs- und Meinungsaustausch ist es nie zu spät“, sagte dagegen Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (43, CDU) am Freitag.

Die Bundeskanzlerin hatte um 13 Uhr bereits die Basketballer der Niners in der Hartmannhalle besucht, unterhielt sich am Rande des Trainings mit den Spielern der Nachwuchsmannschaft und erhielt von der Sportlern einen signierten Basketball. Beim Besuch in der Sporthalle war auch die Chemnitzer Oberbürgermeisterin dabei, das Verhältnis zwischen beiden Frauen blieb hier sehr distanziert.

Kanzlerin Merkel schaute den jungen Chemnitzer Sportlern beim Training zu

Kanzlerin Merkel schaute den jungen Chemnitzer Sportlern beim Training zu

Foto: Kay Nietfeld / dpa

Ludwig noch mal zum Besuch der Kanzlerin: „Der sächsische Ministerpräsident trifft Menschen bei Bürgerdialogen. Auch die Bundesregierung sollte das regelmäßig tun. Am deutlichsten zeigen sich die Folgen der bisherigen, praktisch drei Jahre währenden Sprachlosigkeit beim Thema Integration. Damit wird die Debatte viel zu oft denen überlassen, die Ängste oder tatsächliche Probleme instrumentalisieren.“

Die Polizei überprüft die Flaggen und T-Shirts bei der rechten Kundgebung

Die Polizei überprüft die Flaggen und T-Shirts bei der rechten Kundgebung

Foto: ODD ANDERSEN / AFP

Während des Leserforums erklärte Merkel, dass sie die Aufregung und Erregung vieler Menschen in der Stadt verstehen könne, nachdem Ende August ein Chemnitzer vermutlich von Asylbewerbern erstochen worden war. Diese Erregung rechtfertige aber nicht, bei rechtsradikalen Demonstrationen Straftaten zu begehen.

„Was mich bedrückt ist, dass in der Folge der Ereignisse das Gefühl der Sicherheit für viele Menschen verloren gegangen ist. Das geht Verantwortungsträger in einem Rechtsstaat an! Das kann uns nicht egal sein.“

Die Kanzlerin räumte in der Gesprächsrunde aber auch ein, dass Bürgergespräche in der Vergangenheit möglicherweise zu kurz gekommen seien.

Seit 16.45 Uhr sammelten sich Anhänger der rechtspopulistischen Wählervereinigung ProChemnitz in der Nähe der Hartmannhalle. „Macht euch bereit, es wird ein wichtiger Abend!“, kündigten sie vorab auf der Facebook-Seite der Vereinigung an. Am Abend waren es laut Schätzungen der Versammlungsbehörden 2500 Demonstranten.

„Bislang wurden 16 Straftaten (überwiegend Beleidigungen) durch die Einsatzkräfte registriert“, sagte eine Polizeisprecherin am Freitagabend. „Bei einem 31-Jährigen fanden die Beamten einen selbstgebauten Böller. Ein 53-Jähriger hatte ein verbotenes Messer dabei.“

Um Szenen wie z.B. im Sommer 2015 im sächsischen Heidenau zu verhindern waren insgesamt 1770 Beamte im Einsatz. Vor mehr als drei Jahren hatten dort Rechtsextreme vor einer Asylunterkunft mit rassistischen Sprechchören („Weg mit dem Dreck“) gegen Flüchtlinge gehetzt. Als Merkel sich damals wenige Tage später ein Bild vor Ort machte, wurde sie von rechten Pöblern beschimpft und auf übelste Weise beleidigt.

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