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Kultur Bernardo Bertolucci †

Alles ist tot, nur der Sex ist es nicht

Filmredakteur
Bernardo Bertolucci im Alter von 77 Jahren gestorben

Sein Film "Der letzte Tango" schockte 1972 mit Sexszenen. Mehrfachen Oscar-Ruhm erlangte der italienische Regisseur mit dem Monumentalwerk "Der letzte Kaiser". Nun ist Bernardo Bertolucci im Alter von 77 Jahren gestorben.

Quelle: Reuters

Autoplay
„Der letzte Tango in Paris“ und „Der letzte Kaiser“ machten ihn berühmt. Bernardo Bertolucci war der große Geschichtserklärer. Ein Nachruf zum Tod des italienischen Filmregisseurs und Marxisten.

Bernardo Bertolucci, um das klar zu sagen, war Marxist. Aber wer von den großen italienischen Regisseuren – Visconti, Pasolini, Antonioni, Damiani, Germi – war das nicht (na gut, Fellini). Er war außerdem Individualist, Bourgeois, Vatermörder, Opernliebhaber, Geschichtsbesessener.

Bertoluccis Vater war Poet, ein Übersetzer von Dickens und Hemingway und Proust, eine landesweite Berühmtheit. Mit 16 veröffentlichte auch Bernardo einen Gedichtband, aber er hörte auf, Gedichte zu schreiben, weil er spürte, dass er dem Vater nicht das Wasser reichen würde.

Mit 20 zog er in Rom in das gleiche Gebäude wie Pier Paolo Pasolini, die nächste Vaterfigur, ihr las er seine Gedichte vor, ihr half er als Regieassistent. Dann kam Jean-Luc Godard. Mit 23, in seinem Film „Vor der Revolution“, variierte er Godards Thema einer vorrevolutionären Gesellschaft auf Italienisch, und er brauchte ein paar Jahre, bevor er sich von dem Übervater Nr. 3 emanzipiert hatte.

Große Politik vermengt mit privaten Motiven

Der Regisseur Bernardo Bertolucci
Der Regisseur Bernardo Bertolucci

Und nun werden die Dinge komplizierter, viel komplizierter. Wir schreiben 1970, die Nachbeben von 68 sind überall spürbar, und in Italien nähern sich die Kommunisten der Regierungsbeteiligung. Da dreht Bertolucci „Die Strategie der Spinne“, worin ein junger Mann in eine Kleinstadt zurückkehrt, um den Mord an seinem Vater aufzuklären, der unter Mussolini ermordet wurde und seitdem als antifaschistischer Held verehrt wird.

In Wahrheit, findet der Sohn heraus, ist der Vater von seinen Genossen umgebracht worden, weil er ein geplantes Attentat auf Mussolini verraten hatte. Mehr noch, der Vater hatte seine Ermordung inszeniert, damit diese den Faschisten angelastet werden konnte. Der Sohn lässt die Legende unangetastet, wie James Stewart die von John Wayne in „Liberty Valance“.

Im nächsten Jahr, in „Der große Irrtum“, treibt Bertolucci die Verquickung von großer Politik und privaten Motiven weiter. Ein Kleinbürger erhält von Mussolinis Geheimpolizei den Befehl, einen Dissidenten im Exil zu ermorden. Er nimmt Kontakt auf, lernt dessen Frau kennen, begehrt sie, wird zurückgewiesen. Er könnte diese Frau retten, aber im Verlauf des Attentats weist nun er sie ab, auch sie muss sterben.

Zwei Jahre später, in „Der letzte Tango in Paris“, scheint das Private die Politik ganz in den Hintergrund gedrängt zu haben. Das ist aber nur der vordergründige Blick, dem einzig die Sensation in Erinnerung bleibt, diese „Szene mit der Butter“ und die Quasivergewaltigung der Hauptdarstellerin Maria Schneider vor der Kamera.

„Ich akzeptiere alle Auslegungen meiner Filme“

Es geht im „Tango“ um zwei Orte, Marlon Brandos Wohnung einerseits und die Außenwelt andererseits, und draußen gilt nur das Leistungsprinzip, und innen ist ein geschützter Ort, wo es nicht regiert. Oder, mit Alberto Moravia gesprochen, dem Autor des „Großen Irrtums“: In der Wohnung herrscht der Eros mit seinem Lustprinzip, draußen der Thanatos, das Prinzip des Todes.

Filmszene aus "Der letzte Tango in Paris" mit Maria Schneider und Marlon Brando
Filmszene aus "Der letzte Tango in Paris" mit Maria Schneider und Marlon Brando
Quelle: Neue Visionen

Einzig der Sexus sei in der westlichen Gesellschaft noch lebendig, erklärte Bertolucci damals: „Der ganze Rest ist tot: die Bourgeoisie, die Ehre, die Orden, die Familie, die Ehe und sogar die Liebe selbst.“ Die Gesellschaft habe den Sexus unterdrückt, um die Kraft des Menschen für die Arbeit einzuspannen.

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Das mag damals eine zutreffende Analyse gewesen sein, doch – wie sich inzwischen gezeigt hat – auch eine wenig voraussehende: Ein halbes Jahrhundert später ist in unserer kapitalistischen Welt auch der Sexus Teil des Leistungsdrucks geworden. Der „Letzte Tango“ ist allerdings derart interpretationsoffen in alle Richtungen, dass Ingmar Bergman ihn als „in Wirklichkeit einen Film über Homosexualität“ bezeichnen konnte und Bertolucci darauf nur antwortete: „Ich akzeptiere alle Auslegungen meiner Filme.“

Als Nächstes sollte das gesamte Weltbild Bertoluccis in einem riesigen Geschichtspanorama ausgebreitet werden: In dem Monumentalfilm „1900“ – im Original „Novecento“, was viel umfassender ist, denn es nimmt das ganze 20. Jahrhundert in Anspruch. Der Film beginnt am 27. Januar 1901, an dem nicht nur Verdi stirbt, sondern an dem im gleichen Ort in der Emilia zwei Kinder zur Welt kommen: Alfredo, der Sohn des Großgrundbesitzers, und Olmo, der illegitime Sohn eines Landarbeiters.

Wie aus Populismus Faschismus erwächst

Bernardo Bertolucci, der Sohn eines wohlhabenden Intellektuellen, fand die besten Freunde seiner Kindheit in den Söhnen armer Bauern außerhalb Parmas, wo die Familie auf dem Lande lebte. Alfredo (Robert De Niro) findet seinen besten Freund in Olmo (Gérard Depardieu, der rüberkommt wie ein junger Brando), und diese Freundschaft wird in vier Jahrzehnten vieles aushalten müssen: den Ersten Weltkrieg, Hilfsarbeiterstreiks, die Mechanisierung der Landwirtschaft, den Aufstieg des Faschismus, die Entstehung der Partisanen, die Rivalität um dieselbe Frau.

„1900“ ist ausdrücklich kein Buddy Movie, bei dem sich zwei Männer durch dick und dünn treu bleiben. Alfredo und Olmo stehen auf unvereinbaren Seiten der Gesellschaft, und um diese Konflikte geht es, nicht um sentimentale Kumpelschaft.

Der Film endet 1945, und dem Gutsherrn soll der Prozess gemacht werden, doch Olmo rettet Alfredo, indem er „Der Padrone ist tot“ in die Runde ruft; die Unterdrückung durch den Gutsherren sei beendet. Doch das ist nicht das letzte Wort des Films. Das gehört Alfredos Feststellung „Der Padrone lebt“ – die Machtverhältnisse der Gesellschaft haben sich also nicht wirklich geändert.

Bernardo Bertolucci 1980 in Stockholm
Bernardo Bertolucci 1980 in Stockholm
Quelle: AFP/-

„1900“ reklamierte für sich eine allgemeingültige Darstellung der prägenden Konflikte dieses Jahrhunderts, 25 Jahre vor dessen Ende, und im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist noch so viel geschehen, wovon Bertoluccis Film keine Ahnung hat/haben konnte. Der Ost-West-Konflikt hat sich aufgelöst, die Arbeiterklasse hat sich verflüchtigt, statt der proletarischen hat eine digitale Revolution stattgefunden.

Das ändert nichts an der Großartigkeit von „1900“, was sich bei der Premiere der restaurierten Fassung voriges Jahr in Venedig feststellen ließ, an seinem langen, geduldigen, gleichmäßigen historischen Atem, an der Grandezza seiner Besetzung (De Niro, Depardieu, Donald Sutherland, Burt Lancaster, Dominique Sanda, Stefania Sandrelli, Sterling Hayden), an den überwältigenden Bildern von Bertoluccis Stammkameramann Vittorio Storaro, an der verdiesken Musik von Ennio Morricone – und an einem unschätzbaren Dienst, den der Film uns Gegenwärtigen erweist: Er legt sehr klarsichtig dar, wie aus Populismus Faschismus erwächst, weil die bürgerliche Mittelklasse dies in ihrem Desinteresse an Politik zulässt.

Bertolucci reagierte mit einem doppelten Rückzug

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Die Widersprüche der Geschichte verlangten, dass Bertolucci sein Magnum opus nur mit Hilfe kapitalistischer Gelder des US-Majors Paramount drehen konnte; das resultierte in Streitigkeiten um die Länge der Kinoversion, die von 317 erst auf 180 Minuten verstümmelt wurde und sich schließlich auf 245 Minuten einpendelte. Auf jeden Fall hatte Bertolucci damit eigentlich alles über seine Heimat und ihre Geschichte gesagt, der linke und der rechte Terrorismus verhinderten den möglichen Kompromiss zwischen Christdemokraten und Kommunisten, die politische Lage wurde zusehends unübersichtlich, die alten Fronten und Gewissheiten verschwammen.

Schau mir in die Augen, Kleines: Bernardo Bertolucci gibt Liv Tyler 1996 beim Dreh von „Stealing Beauty“ Regieanweisungen
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Quelle: Mondadori Portfolio/Getty Images

Bertolucci reagierte mit einem doppelten Rückzug, aus seiner Heimat und aus dem politischen Kampf. Er globalisierte sich sozusagen und suchte Antworten in nicht westlichen Kulturen. Zuerst in Peking, wo er für „Der letzte Kaiser“ als erster Nichtchinese in der Verbotenen Stadt drehen durfte; dann in Marokko, wo Debra Winger und John Malkovich in „Himmel über der Wüste“ ihre okzidentale Identität in der Sahara verlieren; dann in „Little Buddha“, wo der enttäuschte Marxist und „Amateurbuddhist“ (so seine eigene Einschätzung) eine neue Utopie für das Zusammenleben von Menschen zu finden glaubte.

Es gibt viele Vaterfiguren bei Bertolucci (wobei: Je älter er wurde, desto mehr kommen sie bei ihm als weise Lehrer vor). Es gibt viele gespaltene Persönlichkeiten und Doppelgänger bei ihm, in der „Strategie der Spinne“ zum Beispiel werden Vater und Sohn vom gleichen Schauspieler dargestellt. Es gibt, auch das ist festzustellen, kaum interessante weibliche Figuren bei Bertolucci, sie sind meist Reflexe auf die Gefühle der Männer, von ihnen sexualisierte Rollenfüller. Immerhin, für das Hollywood, das ihn mit neun Oscars für den „Letzten Kaiser“ heftig an seine Brust drückte, fiel ihm ein weibliches Attribut ein: „The Big Nipple“.

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