Literatur
Weltliteratur landet im Feuer

Im neuen Roman von Vladimir Sorokin, «Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs», werden Bücher unter den Grill gelegt und dienen dekadenten Dinners als Brennmaterial.

Wolfgang Huber-Lang
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Der russische Autor Vladimir Sorokin legt ein neues Werk vor, das von einer düsteren Zukunft handelt. (Archiv)

Der russische Autor Vladimir Sorokin legt ein neues Werk vor, das von einer düsteren Zukunft handelt. (Archiv)

Keystone

Schauermärchen aus der nahen Zukunft sind die Spezialität des 63-jährigen Russen Vladimir Sorokin. Er würzt seine aus dem Befund der politischen und gesellschaftlichen Gegenwart befeuerten Dystopien stets mit Zutaten aus der Science-Fiction und dem Horror-Roman: die Brutalität eines neuen Mittelalters, gepaart mit den künftigen technischen Errungenschaften des fortgeschrittenen 21. Jahrhunderts.

Auch im neuen Roman, mit dem Sorokin seine Leserinnen und Leser ins Jahr 2037 entführt, regieren nach grossen Kriegen und salafistischen Revolutionen entweder neue Monarchien oder verbrecherische Clans. Die Menschen tragen oder wischen ihre elektronischen Hilfsmittel nicht mehr, sondern sie haben sie gleich eingepflanzt. Flöhe werden die Implantate genannt. Der Protagonist Geza hat gleich drei davon.

Eingepflanzt hinters Ohr, unter die Haut und ins Kleinhirn, sind seine Flöhe für Sicherheit, Terminplanung, Wissen und Gefühle zuständig. Geza ist viel beschäftigt, ohne festen Wohnsitz und ständig auf Achse. Er ist Meisterkoch und Vielleser.

Doch im Jahr 2037 bedeutet lesen verbrennen. Die Meisterwerke der Weltliteratur dienen einem kleinen Kreis von Köchen als Zunder für ausgeklügelte Speisefolgen: Kalbslunge auf «Zauberberg», Christusfisch-Filet auf «Alter Mann und das Meer», halb gares Schwein auf «Schwejk», Schnitzel auf Schnitzler oder «Thunfischsteak» auf «Moby Dick». Geza ist auf die grossen russischen Klassiker spezialisiert: Stör-Schaschlik auf Dostojewskis «Der Idiot» oder Seeteufelsteak auf Platonows «Tschewengur».

Düsterer Blick in die Zukunft

Book ’n’ Grill ist ein sehr teures Vergnügen und ein einträgliches Geschäft. Denn es ist streng verboten – auch, weil die Beschaffung des teuren Brennmaterials nicht selten Tote kostet. Daher ist «Manaraga» nicht nur ein düsterer Blick in die Zukunft, der die politisch oder religiös begründeten Bücherverbrennungen von einst weitertreibt und pervertiert, sondern auch ein Thriller. Die Krimihandlung kommt aber erst spät in Schwung. Bis dahin hat man sich sattgelesen an Beschreibungen erlesener Menüfolgen, dekadenter Kunden und seitenlanger Beispiele zeitgenössischer Literatur des mittleren 21. Jahrhunderts, die nicht mehr gedruckt, sondern ausschliesslich digital verbreitet wird, und die dem Leser rasch auf den Magen schlägt. (apa)

Vladimir Sorokon: «Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs», Kiepenheuer & Witsch.