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Nordrhein-Westfalen Avantgarde

Der Künstler als Anarchist

Die Musik 4,2 MiB Heinrich Nauen Die Musik, 1914 Tempera auf Leinwand Privatbesitz Foto: Carsten Gliese, Köln Die Musik 4,2 MiB Heinrich Nauen Die Musik, 1914 Tempera auf Leinwand Privatbesitz Foto: Carsten Gliese, Köln
Die Musik, 1914, Heinrich Nauen
Quelle: Carsten Gliese, Köln
Im Rheinland entwickelten Heinrich Nauen, Heinrich Campendonk und Johan Thorn Prikker schon vor dem Bauhaus die Idee des Gesamtkunstwerks. Ihr Unwille, sich dem klassischen Ideal des Künstlers zu beugen, sorgte nicht nur für Verehrer.

Er war ein Typ, der aneckte. Wegen seines unordentlichen Betragens war Johan Thorn Prikker früh von der Kunstakademie in Den Haag geflogen. Anschließend startete er auf eigene Faust seine Karriere als Querkopf. „In einem Anzug, der an einen Radrennfahrer erinnert“, wie es heißt. Seine Manieren seien derb. Das sagten sogar jene, die den Künstler schätzten. Der schimpfte hemmungslos über konservative Kollegen und schlug auch mal eine Ausstellung aus, wenn ihm der Rahmen nicht passte: „Ich finde, man sollte nicht einfach alles, was man so macht, unter die Spießer schicken, genauso wenig wie seine Tochter auf den Strich.“ Nicht im persönlichen Auftreten und noch weniger in der Kunst waren Zugeständnisse seine Sache. Eine Haltung, die das Publikum spaltete: Was bei den einen auf heftige Ablehnung stieß, wurde von den anderen in höchsten Tönen bejubelt.

Besonders in Deutschland fand der 1868 geborene Niederländer früh Fans. Meist waren es Verfechter der Avantgarde, die Thorn Prikker in eigener Sache anheuerten, als Gestalter und als Lehrer. Den Anfang machte 1904 der Krefelder Museumsdirektor Friedrich Deneken, er holte Prikker an die topmoderne Kunstgewerbeschule. Etwas später lockte ihn der Mäzen Karl Ernst Osthaus nach Hagen, wo Thorn Prikker 1911 ein riesiges Glasfenster für den Bahnhof entwarf. Sein Hauptwerk der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg schuf der Künstler jedoch im damals ziemlich provinziellen Städtchen Neuss: die völlig neuartigen und zunächst heftig umstrittenen Glasfenster der Dreikönigenkirche.

Vor fast hundert Jahren sind sie dort eingesetzt worden, außerdem jährt sich 2018 Prikkers Geburtstag zum 150. Mal. Zum doppelten Jubiläum präsentiert das Clemens-Sels-Museum in Neuss den Künstler, der in der hauseigenen Sammlung gut vertretenen ist, zusammen mit zwei jüngeren Weggefährten, die beispielhaft stehen für das Ringen um die umstrittene Moderne: Prikkers treuer Schüler Heinrich Campendonk und der befreundete Heinrich Nauen. Beide begeisterten sich vor allem für Prikkers Idee des Gesamtkunstwerks.

Pionier der Glaskunst

„Ihrer Zeit voraus!“ Das ist der Titel der Schau. Das gilt vor allem für Thorn Prikker – und das nicht erst mit seiner Ankunft im Rheinland. Die Landsleute des Künstlers konnten schon viel früher staunen, etwa über das Bild „Braut“. Denn hier ging der 24-Jährige so weit mit der Abstraktion wie kaum ein Zeitgenosse. Eigentlich ist es gar keine Figur mehr, die er auf die Leinwand bringt, sondern eine Keilform aus hellem Gewebe. Er wollte damals, wie er sagte, „die Essenz des Schönen in der Natur von der Form abstrahieren“. Ganz im Sinne des Symbolismus mit Farben, Flächen, Linien suggestive Effekte erzielen.

Angesichts solcher rein ästhetischen Überlegungen überrascht Thorn Prikkers politische Schärfe, die sich in Zeichnungen der 1890er-Jahre immer klarer artikuliert. Für ihn stand fest: Der Künstler müsse Anarchist sein. Schnell hatte er den Ruf eines urwüchsigen Proleten, zu dem natürlich keine symbolistischen Bräute mehr passten. So verabschiedet Thorn Prikker sich denn auch vom autonomen Staffeleibild mit der Bemerkung: „Ich habe eigentlich genug vom Malen. Um uns herum passieren doch größere Dinge.“

Kunst, zu dieser Überzeugung kam er mehr und mehr, könne nur im architektonischen oder sozialen Zusammenhang etwas bewegen und die kranke Gesellschaft durch Schönheit genesen lassen. Beim Entwerfen von Möbeln, Dekostoffen, Intarsienkästchen, Wandbildern und Mosaiken verfolgt Thorn Prikker nun die Idee einer Symbiose von Kunst und Handwerk zum Wohle der Gesellschaft. Ein Thema, das im Jugendstil aufkam und auch bei Nauen und Campendonk wichtig wurde: Immer sahen sie sich in einer Doppelrolle, als Maler und Entwerfer.

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Ebenso der junge Peter Behrens, der am Rande ins Spiel kommt mit seinem 1910 in Neuss realisierten Gesellenhaus – auch das ein Gesamtkunstwerk, an dem Thorn Prikker mit einem Wandbild und einigen Glasmalereien für die angegliederte Kapelle beteiligt war.

Wer bisher dachte, das Bauhaus sei eine Sache, die allein Weimar, Dessau und Berlin betreffe, dem wird spätestens jetzt in Neuss klar, dass auch NRW eine Rolle spielt. Vor allem in der Vorgeschichte der legendären Schule für Gestaltung. Mit Leuten wie Osthaus, Thorn Prikker und natürlich Behrens, in dessen Büro der spätere Bauhaus-Gründer Walter Gropius ab 1908 erste praktische Erfahrungen sammelte. Nicht ohne Grund kann sich die Ausstellung in Neuss einreihen ins Festprogramm, mit dem 2019 der 100. Bauhaus-Geburtstag begangen wird.

Doch wurde Thorn Prikker nicht nur zu einem Bauhaus-Vorläufer, in Neuss tat er sich überdies als Pionier einer neuen Glaskunst hervor. Lange schon träumte der Künstler von dieser Technik, „die Malerei und Handwerk so schön miteinander verbindet“. In der Dreikönigenkirche bekam er die Gelegenheit, sich gründlich auszutoben auf diesem Terrain.

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Zunächst für Chor und Querschiff sollte er Fenster schaffen. Die im Ausstellungskatalog gründlich recherchierte Geschichte rund um den Auftrag an Prikker liest sich wie ein kleiner Krimi. Die Fäden zog der mutige Kaplan Joseph Geller. Allerdings nicht sehr erfolgreich, denn sein heimlicher Großauftrag an den extrem umstrittenen Künstler kostete ihn bald den Job in Neuss. Auch das ist Teil der Geschichte: das Ringen um die Durchsetzung der Modernen Kunst im Rheinland.

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Während der fortschrittliche Kleriker von der konservativen Kirchenführung kaltgestellt wurde, wanderten Prikkers sagenhafte Fenster für die nächsten Jahre in den Keller. Nur zweimal kamen sie ans Tageslicht: bei einer Sonderausstellung 1912 und später bei der Ausstellung des Deutschen Werkbundes. Nicht alle waren davon begeistert. Markierten die Fenster mit starken Farben, kantigen Formen und expressiv aufgeladenen Gesten einen radikalen Bruch mit den Glasfenstern des Historismus.

Erst 1919 rang man sich durch, Prikkers Meisterwerke in der Kirche einzubauen. „Für mich sind sie das Beste, was seit Jahrhunderten auf diesem Gebiete wieder erreicht wurde“, schwärmte Osthaus. Jahre später erst bekam Prikker den Auftrag für die restlichen Fenster im Langhaus und wählte nun eine andere, geometrisch-konstruktive Formensprache, die wohl durch die Künstlergruppe De Stijl und Kollegen wie Piet Mondrian beeinflusst worden war.

„Wie schön müsste es sein, mit der Sonne selbst zu malen“, so träumte Prikker. Das hat er nicht geschafft, aber er erneuerte die Glaskunst von Grund auf. Heute, über hundert Jahre nach seinen Pioniertaten, steht das farbige Fenster erneut hoch im Kurs. Gerhard Richter, Markus Lüpertz, Sigmar Polke, Neo Rauch – die Liste zeitgenössischer Stars, die das bunte Glas feiern, ist lang.

Bis 10. März. Clemens-Sels-Museum, Neuss. Alle weiteren Infos erhalten Sie hier.

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